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Die Akte Veden

Die Akte Veden

Titel: Die Akte Veden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Meier
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was vor sich ging. Seine Mutter saß über ihm, still, aufrecht und kalt auf ihn hinabblickend. Sie würde keinen Finger rühren, um ihm auf die Beine zu helfen. Sein Vater stand irgendwo im Zimmer und rieb sich die Knöchel an der rechten Hand.
    »Bessere dich, mein Sohn«, hörte er irgendwann seine Mutter sagen.
    Anschließend waren sie weg. Crawn kam herein, sah ihn liegen, betrachtete Chest einen Moment lang und ging schließlich hinaus.

    *
    ›Wie oft hat er das schon getan?‹
    Chest starrte auf die Weißdecke hinauf. Er lag auf einer Pritsche im Krankenhaus. Irgendwo in einem anderen Bett heulte ein Junge, aber er hörte nicht hin.
    Die Nase war operiert worden. Die Platzwunde mit mehreren Stichen genäht. Eine Niere war gerissen und in einer Not-OP entfernt worden.
    ›Er tut es jedes Mal, wenn wir uns treffen.‹
    ›Du lädst große Schuld auf dich, wenn du ihm das erlaubst.‹
    Chest reagierte nicht, fragte stattdessen: ›Was hat es mir der Schuld auf sich, die ich auf mich lade?‹
    Hora hörte sich amüsiert an. ›Beginnst du, dich dafür zu interessieren?‹
    ›Crawn sagte, ich hätte eine natürliche Begabung, was die Imagination betrifft. Was genau hat es damit auf sich?‹
    Hora kicherte. ›Crawn ist ein Trottel. Er kennt sich zwar mit den Dingen aus, aber das Ganze überblickt er nicht. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wozu du fähig bist, Chest, sonst hätte er dich längst getötet.‹
    ›Er kann mich nicht töten.‹
    ›Nein. Jetzt nicht mehr.‹
    ›Was ist also mit dieser Schuld?‹
    ›Nun, du hast es selbst zu deinen Eltern gesagt: Du bist hier, um das zu bringen, was in der Vergangenheit verdient wurde. Du bringst die Bezahlung, Chest. Aber du bist nicht immun.‹
    Chest schloss die Augen. ›Erkläre das.‹
    ›Kausalität, Chest. Determinismus. Was weißt du darüber?‹
    ›Gar nichts, du Freak.‹
    Hora lachte. ›Das dachte ich mir. Wir haben nur ein einziges Problem: Ich kann es dir nicht erklären.‹
    ›Warum nicht?‹
    ›Weil du es erfahren musst. Ich kann dir nur Aufgaben geben, die dich letztlich zur Erkenntnis führen, aber erklären… Unmöglich. Eine Erklärung würde lediglich deinen Geist ausrichten, sodass du die Kausalkette nach meinen Worten bauen würdest, und das ist nicht hilfreich. Ich will sehen, wie deine Welt aufgebaut ist. Meine kenne ich zur Genüge.‹
    ›Ich verstehe kein Wort.‹
    Wieder das Lachen. ›Meine Erklärung würde dir ein vorgefertigtes Bild liefern, das sich schlussendlich realisieren würde. Das wollen wir nicht, Chest.‹
    ›Ach nein?‹
    ›Das ist nicht der Plan.‹
    ›Warum ich, Hora?‹
    ›Weil du das Talent hast, den Mumm und die Wahrnehmung.‹
    ›Du hast das nicht?‹
    ›Meine Stärken liegen auf anderen Gebieten. Aber wir beide zusammen, Chest – wir beide werden mit vereinten Kräften ins Himmelreich zurückkehren.‹
    ›Du redest schon wieder Scheiße.‹
    ›Wir werden sehen.‹

    *
    Er saß allein im Klassenzimmer, in der vordersten Reihe. Vor ihm lagen sein Block und sein Kugelschreiber. Chest wartete nun schon fünfzehn Minuten auf den Mentor. Noch fünf Minuten, und dann würde er gehen. Er rutschte ihm Stuhl ein wenig nach unten, streckte die Beine nach vorne aus und starrte vor sich hin.
    Die Minuten vergingen. Chest saß vollkommen still. Nur seine Augen verfolgten, wie sich der Sekundenzeiger der Uhr über dem Pult vorne im Kreis bewegte. In der Sekunde, in der die fünf Minuten voll wurden und Chest aufstehen wollte, öffnete sich die Tür.
    Chest drehte den Kopf. Und er wusste sofort, wen er vor sich hatte. Ein hartes Grinsen legte sich auf seine Lippen.
    Der Mentor ging zum Pult und ließ ein kleines Büchlein darauf fallen. »Willkommen zur ersten Imaginationsstunde.«
    »Zwanzig Minuten zu spät«, erwiderte Chest.
    »Nimm es gleich als Lektion: Zeit ist nicht wirklich.« Der Mentor setzte sich hinter das Pult.
    »Warum bin ich der einzige Schüler?«
    »Weil das immer so ist. Imagination kann man nur einem einzelnen Menschen auf einmal erklären, mehrere wären hinderlich. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Sir Vaira.«
    Chest musterte seinen Mentor still. Er hatte nichts Besonderes an sich, im Gegenteil: Er sah durchschnittlich aus. Etwas längere, mittelbraune Haare, fast mädchenhaft anmutende Gesichtszüge, eine schlanke und drahtige Gestalt. Aber seine Augen… Diese Augen besaßen eine bemerkenswerte Schärfe; dieser Blick schien sich direkt in Chests Hirn zu bohren.
    Bei diesem Vergleich

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