Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
nicht kommen können“, stammelte Bruns. Von seinem gerade noch zur Schau gestellten Selbstbewusstsein war kaum mehr etwas geblieben. „Sie müssten Philips Fähigkeiten doch am besten beurteilen können. Die Studenten fressen ihm aus der Hand. Hätte er versucht, sich zu verteidigen, wäre es ihm womöglich gelungen, die anderen von seiner Unschuld zu überzeugen.“
„Wie hätte ihm das wohl gelingen sollen?“, höhnte der Dekan. „Was glauben Sie wohl, warum er auf eine Verteidigung verzichtet? Weil er heute etwas Besseres vorhat? Kartenspielen oder Schwimmen gehen?“
Beekmanns Laune war gekippt. Man hatte ihn des Triumphes beraubt, einen zutiefst gedemütigten Philip Kramer, den Kopf in Buße gesenkt, das vernichtende Urteil vernehmen zu sehen.
„Sie hätten ihn trotzdem herbeordern und seine Demission selbst verkünden lassen sollen“, blaffte er. „Wieso haben Sie mich nicht informiert?“
„Sie waren noch nie bei einer solchen Versammlung anwesend. Wie hätte ich denn wissen können -?“
„Sparen Sie sich ihre Erklärungsversuche“, fiel Beekmann ihm ins Wort. „Gehen Sie zurück ans Pult, Sie Idiot, und denken Sie nächstes Mal nach, bevor Sie mich vor aller Augen brüskieren.“
Bruns wich einen halben Schritt zurück. „Herr Professor, bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht -“
„Verschwinden Sie, Carsten, und seien Sie gewiss, dass über diese Angelegenheit noch zu reden sein wird.“
Mit hochrotem Gesicht stolperte Bruns einige Meter rückwärts, bis er sich schließlich umdrehte und der Aufforderung Folge leistete. Auch Beekmann machte kehrt und hinkte zum Ausgang.
Diesen Tag hatte er sich anders vorgestellt.
*
Carsten anzurufen und die StuPa-Sitzung sausen zu lassen war eine Bauchentscheidung gewesen. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum, aber als Kevin Deus Ex Machina ins Spiel brachte, hatten bei mir sämtliche Alarmglocken geklingelt. Anfangs mochte es nicht mehr als ein Reflex gewesen sein. Eine dürftige Assoziation von der Anonymität einer Geheimgesellschaft zur Anonymität unseres gesichtslosen Kameramanns. Aber je länger ich zusammen mit Kevin, einen Teller mit chinesischem Essen auf dem Schoß, über Franks Mappe und der Homepage der Bruderschaft grübelte – offenbar war ein Internetauftritt in der heutigen Zeit auch für einen Geheimbund unverzichtbar -, desto mehr verspürte ich eine Ahnung, auf der richtigen Fährte zu sein.
Die Diskrepanz der beiden Informationsquellen sprang uns förmlich an. Auf der Homepage, deren Zugangscode zu knacken Kevin nur ein müdes Lächeln entlockt hatte, präsentierte sich Deus Ex Machina als Hochbegabtenclub, der sich die finanzielle und ideelle Förderung hoffnungsvoller Nachwuchsakademiker auf die Fahnen geschrieben hatte. Private Stipendien durch altgediente Mitglieder, gezielte Vermittlung an Kanzleien und andere wohlgesonnene Unternehmen – ein System aus Geben und Nehmen, von dem alle Beteiligten nur profitieren konnten. Bei aller Geheimniskrämerei eine harmlose studentische Verbindung, wie es sie in Münster zuhauf gab. In Franks Schnellhefter hingegen stand die Bruderschaft in einem gänzlich anderen Lichte da: Abrakadabra, Simsalabim, Hokuspokus fidibus. Ein elitäres Gebilde mit Verhaltensregeln und Ehrenkodex. Frank schrieb dem Geheimbund Charakteristika zu, die so gar nicht zum moderaten Inhalt der Homepage passen wollten: rassistische Tendenzen, arisches Gedankengut, Herrenrassengehabe. Fast gewannen Kevin und ich den Eindruck, dass wir es hier mit zwei verschiedenen Organisationen zu tun hatten.
Zum ersten Mal seit Franks Tod fühlte ich mich so richtig in meinem Element. Einerseits war ich als Geschichtsstudent geübt darin, aus widersprüchlichen Quellen verlässliche Informationen zu extrahieren, auf der anderen Seite war ich mit Franks mitunter eigenwilliger Art zu denken, zu reden und zu argumentieren vertraut. Ich bewegte mich also auf meinem Terrain, und mit der Zeit gelang es mir auch, ein mehr oder minder zuverlässiges Bild von der Bruderschaft zu zeichnen.
Offenbar handelte es sich bei Deus Ex Machina um eine recht junge Vereinigung, die erst Ende der Siebziger, quasi als Antipol zu den seinerzeit allgegenwärtigen Unruhen an den Universitäten, von einer Handvoll Studenten, die nicht namentlich genannt wurden, ins Leben gerufen worden war. Wenn ich Franks Ausführungen richtig verstand, hatten sich die Gründer Platons Utopie vom Philosophenstaat zum Vorbild genommen – ein
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