Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
geil.“
„Wie der Herr wünschen. Bin in einer halben Stunde zurück.“
Ich griff nach meiner Jacke und verließ die Wohnung. Vor der Haustür drehte ich mir eine Zigarette. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Typ mit Sonnenbrille und Baseballkappe. Rot, nicht grün. Bloß nicht paranoid werden! Und doch drehte ich mich auf dem Weg zum Chinaimbiss alle zehn Meter um.
Li, den Koch, kannte ich von der Uni. Wir plauderten ein wenig über den Machtwechsel in Nordkorea, und aus der halben Stunde wurden fünfundvierzig Minuten. Als ich in die Wohnung zurückkam und mit der verführerisch duftenden Tüte in der Hand Franks Zimmer betrat, strahlte mir der Desktop entgegen. „Gut gemacht, Kevin“, sagte ich, nahm die Aluminiumschalen aus der Tüte und stellte sie auf den Schreibtisch.
„Willst du Sambal Olec oder Sojasoße dazu?“, rief ich, während ich in der Küche Teller und Besteck hervorkramte.
Keine Antwort.
„Kevin?“, rief ich etwas lauter.
Keine Antwort.
Ich ging zurück in Franks Zimmer. Kevin saß auf dem Sofa und blätterte in dem Schnellhefter, den ich unter der Tagesdecke gefunden hatte. Er schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Was los ist?“ Kevin klappte die Mappe zu und warf sie auf den Tisch. „Das könnte ich ja wohl eher dich fragen. Was hast du mit diesen Kapuzenträgern zu schaffen, Alter?“
„Wen meinst du? Deus Ex Machina? Nichts hab ich mit denen zu schaffen. Die Mappe gehörte Frank. Wieso regt dich das so auf?“
„Hab ich dir mal von Micky erzählt?“
„Wer soll das sein?“
„Michael Radebrecht. War ein gottverdammtes Computergenie, das kann ich dir flüstern. Heute ist er nur noch ein sabberndes Wrack, das in der Klapse in der Albert-Schweizer-Straße vor sich hin vegetiert. Seit Monaten ist der auf einem Trip, von dem er vielleicht nie wieder runterkommen wird.“
„Und was hat das mit dieser Pseudo-Bruderschaft zu tun?“
„Viel.“ Kevin seufzte und strich sich eine Rastalocke aus der Stirn. „Die haben ihm den Trip verpasst. Sie nennen es das Dante-Ritual.“
Deus Ex Machina
Walter Beekmann platzierte die Kaffeekanne, einen Teller mit Korinthenbrot und die gute Butter auf einem Tablett und machte es sich auf der Veranda am Gartentisch aus Teakholz bequem, wo ihn der Stapel lokaler und überregionaler Tageszeitungen erwartete, die er seit Jahren, teils seit Jahrzehnten abonniert hatte. Am Morgen hatte er es nicht geschafft, sich der Lektüre zu widmen. Er hatte verschlafen und wäre beinahe zu seinem Seminar über den Humanismus zu spät gekommen. Den Weg hätte er sich aber ohnehin sparen können – ganze zwei Studenten waren erschienen.
Beekmann griff nach der Münsterschen Zeitung, blätterte zum Lokalteil vor und überflog den Artikel, der sich mit den jüngsten Protestaktionen der Studenten auseinandersetzte, die der Redakteur als Signal einer neuen Revolutionsbewegung charakterisierte. Eine naive Perspektive, die einen Leserbrief geradezu herausforderte.
Zu allen Zeiten hatten die Studenten bewiesen, wie engstirnig ihr Weltbild war, wenn es galt, strukturelle Änderungen im Hochschulbetrieb mitzutragen. In Beekmanns Augen war es nur konsequent, wenn die dringend notwendigen Reformen nunmehr quasi verordnet wurden - ungeachtet des Aufschreis, der allenthalben durch die Hörsäle der Republik hallte. Mit Bettlaken durch die Straßen stolzieren, 08/15-Sprüche in die Höhe halten und infantile Postulate skandieren war schon immer ein fragwürdiger Weg gewesen. Was hatten die Studenten denn in den letzten Jahrzehnten zu sagen gehabt? Petting statt Pershing? Anarchie ist machbar, Herr Nachbar? Schüttelreimplattitüden, die nicht mehr Gewicht hatten als ein Pfeifen im Walde.
Wenigstens warfen sie keine Steine mehr.
Studenten brauchten erfahrene Adjutanten, die für sie die richtigen Entscheidungen trafen. Die ihnen den rechten Weg wiesen. Für Beekmann war es eine Lebensaufgabe. Das erhabene Gefühl, teilzuhaben an der Entfaltung und Selbstfindung dieser jungen Elite, hätte er gegen nichts in der Welt eintauschen wollen. Aufrührer wie dieser unsagbare Philip Kramer, die ihn konservativ und borniert schimpften, drohten diese Symbiose zu zerstören. Was war konservativ daran, an einem Wertesystem festhalten zu wollen, das auf Säulen wie Kameradschaft, Disziplin und Tradition ruhte? Was hatte der Wunsch, den eigenen Erfahrungsschatz an die Jugend weitergeben zu wollen, mit Borniertheit zu
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