Die Augen der Toten 02 - Die Augen der Toten Teil 2
Schauermärchen
Wandfackeln tauchten das Inferno in einen schwachen Widerschein. Das Kaminfeuer in der Ecke spendete noch einen Hauch von Wärme, und zwei der drei anwesenden Brüder zogen ihre Stühle zum Kamin herüber, wo sie sich niederließen und schweigend auf die glimmenden Holzscheite starrten.
Der dritte Mann, der am Tisch in der Mitte des Raumes sitzen geblieben war, beachtete seine jüngeren Mitbrüder kaum. Die unerwartete Wendung der Ereignisse gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie hatten alle Trümpfe in der Hand gehalten. Philip Kramer hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass sein Leben seit Frank Laurenz´ Tod an einem seidenen Faden hing. Jetzt war er gewarnt, und die Polizei gleich mit.
Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Völlig unerwartet war sein Plan ins Stocken geraten. Wie hatte ihm nur ein solcher Anfängerfehler unterlaufen können? Und wie sollte es jetzt weitergehen? Die neue Situation schrie nach Alternativen, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Kindheitserinnerungen drangen in seinen sonst so analytischen Verstand. Fragmente eines Lebens, das nicht mehr das seine war. An das er sich nur in der dritten Person erinnern konnte, als hätte ein anderer Mensch es gelebt.
Nie war er gefragt worden. Nie hatte er selbst entscheiden dürfen. Er hatte sich seines freien Willens beraubt gefühlt, sobald der Tag gekommen war, an dem er begreifen sollte, was freier Wille überhaupt bedeutete. Jener Tag – der Tag der Erleuchtung, wie er ihn heute nannte – war der Todestag seiner Eltern gewesen. Als man ihn damals in die Obhut von Opa Friedrich gegeben hatte, seinem einzigen noch lebenden Verwandten, war er gerade sechs Jahre alt geworden. Das Schlimmste war, dass es niemanden gab, dem er die Schuld für sein Schicksal hätte geben können. Niemand hatte ihn ausgesetzt wie einen Hund oder in einem Korb vor ein Kirchenportal gelegt. Der feiste, bierbäuchige Fettarsch von Lkw-Fahrer – zumindest stellte er ihn sich heute so vor -, der den Volvo seiner Eltern auf die Größe einer Abfalltonne zusammenschoben hatte, hatte den Unfall genauso wenig überlebt.
Opa Friedrich war ein verbitterter, von Hass zerfressener alter Mann. Hass auf die Juden. Hass auf die Schwulen. Hass aus das Leben. Abgrundtiefer Hass, den auch fünfzig Jahre Nachkriegszeit nicht hatten mindern können. Die Geschichten vom Afrikafeldzug fielen ihm wieder ein. Geschichten, die Opa Friedrich, den kleinen, verängstigten Enkel auf dem Schoß wippend, bei jeder Gelegenheit mit Inbrunst zum Besten gab. Seine Augen glänzten verklärt, wenn er erzählte, wie er den Bimbos Kugeln zwischen die Augen jagte, sobald einer der Krausköpfe hinter einem Baum hervorlugte. „Paff!“, rief Opa Friedrich dann immer und riss die Hände hoch, als halte er ein Sturmgewehr. „Paff! Paff!“
An den Wänden der muffigen Zweizimmerwohnung hingen Fotos von Männern in Uniformen. Eines war Opa Friedrichs ganzer Stolz. Es zeigt ihn vor einem Kübelwagen, Arm in Arm mit einem Kameraden, den er immer nur den Wüstenfuchs nannte. In einer Vitrine im Wohnzimmer schimmerten Orden auf samtenen Kissen. Jeden Sonntag kramte Opa Friedrich sie hervor und polierte sie, bis sie funkelten wie seine Augen. Als er schließlich starb, kamen jeden Tag Männer in die Wohnung, deren Augen genauso funkelten, wenn sie in die Vitrine spähten. Kameraden, denen man ansah, dass auch sie einst Uniformen getragen hatten, und die der Frau vom Jugendamt Geldscheine in die ausgestreckte Hand blätterten und sich nahmen, was sie für ihr Seelenheil brauchten.
Man steckte ihn in ein Heim.
Was er mitnahm, waren sieben Jahre Einsamkeit, zweitausendfünfhundert Tage Zucht und Ordnung. Sechzigtausend Stunden Hass auf die Juden, Hass auf die Schwulen, Hass auf das Leben.
Das Heim sollte alles ändern. Anfangs fühlte er sich noch als Objekt unter Objekten, als Herdentier, bar aller individuellen Züge. Doch dann verstand er, was Opa Friedrich meinte, wenn er von Kameradschaft und Treue schwärmte. Er war nicht länger allein. Fühlte sich verstanden und akzeptiert. Und geliebt. Von Kindern, die die gleichen Ängste in sich trugen. Spielkameraden, die er zu verlieren fürchtete, wenn die sonntäglichen Besuche potenzieller Pflegeeltern anstanden – die Fleischbeschauungen, wie die Heimkinder es nannten. Noch heute sah er sie vor sich, die Müllers, Meiers und Schulzes, wie sie an den Reihen auf Hochglanz polierter Jungen und Mädchen entlangflanierten. Auf der
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