Die Augen der Ueberwelt
und sich tausendfach brach. Aus der Gaststube klang fröhliches Stimmengewirr, das Klingen von Glas und Klappern von Steingut. Die verlockenden Gerüche aus der Küche vermischten sich mit jenen von altem Holz, gewachsten Fliesen und Leder. Cugel trat in die Gaststube, wo etwa zwanzig Gäste um das Feuer saßen, Wein tranken und nach Art der Reisenden große Reden schwangen.
Der Wirt stand hinter dem Schanktisch, ein untersetzter Mann, der Cugel kaum bis zur Schulter reichte. Er hatte einen eiförmigen, kahlen Schädel, einen schwarzen Bart, der gut einen Fuß vom Kinn herabhing, vorquellende Augen mit schweren Lidern und eine Miene so friedlich wie der träge Fluß. Als Cugel ihn nach einem Nachtquartier fragte, zupfte er zweifelnd an der Nase. »Meine Schlafkammern sind bereits überbelegt mit Pilgern, die unterwegs nach Erze Damath sind. Jene, die Ihr hier auf den Bänken seht, sind nicht einmal die Hälfte von denen, die hier nächtigen. Ich kann Euch höchstens einen Strohsack auf den Gang legen, wenn Ihr damit vorliebnehmen wollt ...«
Cugel seufzte enttäuscht. »Das erfüllt keineswegs meine Erwartungen. Ich lege großen Wert auf ein eigenes Gemach mit weichem Bett, Ausblick auf den Strom und dickem Teppich, der das Johlen und Gröhlen aus der Gaststube dämpft.«
»Ich fürchte, da kann ich Euch nicht helfen«, sagte der Wirt gleichmütig. »Das einzige Gemach dieser Art ist bereits belegt, und zwar von dem Mann dort mit dem blonden Bart. Ein gewisser Lodermulch, der ebenfalls nach Erze Damath pilgert.«
»Vielleicht könntet Ihr ihm mitteilen, ein Notfall sei eingetreten, und ihn dazu überreden, sein Gemach gegen den Strohsack zu tauschen«, meinte Cugel.
»Ich bezweifle, daß er sich dazu herablassen würde«, entgegnete der Wirt. »Aber versucht es doch selbst. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht geneigt, ihm einen solchen Vorschlag zu unterbreiten.«
Cugel, der Lodermulchs fest geschnittene Züge, seine kräftigen Arme und die hochmütige Weise abschätzte, mit der er dem Gespräch der anderen Pilger lauschte, erging es nicht besser als dem Wirt, und er nahm davon Abstand, seinem Verlangen Nachdruck zu verleihen. »Es sieht ganz so aus, als bliebe mir nur der Strohsack. Doch nun zu meinem Abendmahl: Bringt mir ein schmackhaft gefülltes Brathähnchen, ansprechend garniert, und an wohlschmeckenden Beilagen, was Eure Küche zu bieten hat.«
»Meine Küche ist überfordert«, antwortete der Wirt. »Ihr müßt Euch wohl oder übel mit dem gleichen Linseneintopf wie die Pilger begnügen. Das einzige Huhn, das ich noch hatte, ist längst von Lodermulch für sein Abendmahl vorbestellt.«
Cugel zuckte verärgert die Schulter. »Kann man nichts machen. Ich werde mir den Reisestaub vom Gesicht waschen und danach einen Becher Wein trinken.«
»Hinter dem Haus ist fließendes Wasser und ein Trog, der hin und wieder zu diesem Zweck benutzt wird. Salben, wohlriechendes Öl und heiße Tücher stelle ich zu einem Aufschlag zur Verfügung.«
»Wasser genügt mir.« Cugel ging hinter das Haus und fand den Trog. Nachdem er sich frischgemacht hatte, schaute er sich um und bemerkte in einiger Entfernung einen gut gezimmerten Schuppen. Er war schon auf dem Weg zurück in die Herberge, da drehte er sich noch einmal nach dem Schuppen um, stiefelte darauf zu, öffnete die Tür und blickte hinein. Dann kehrte er nachdenklich in die Gaststube zurück. Der Wirt schenkte ihm einen Becher Glühwein ein, mit dem Cugel sich auf eine abseits stehende Bank setzte.
Man hatte Lodermulch nach seiner Meinung über die seiltanzenden Evangelisten befragt, die möglichst keinen Fuß auf den Boden setzten und ihren Geschäften auf dem Seil nachgingen. Schroff stellte Lodermulch die Fragwürdigkeit ihres Glaubens bloß. »Sie nehmen das Alter der Erde als neunundzwanzig Äonen an, statt der üblichen dreiundzwanzig. Dann lehren sie, daß auf jede Quadratelle Boden zweieinviertel Millionen Tote entfallen, die zu einer allüberall vorhandenen Schicht Leichenhumus verwesten, auf der zu gehen ein Sakrileg wäre. Die These ist von oberflächlicher Glaubwürdigkeit. Aber überlegt selbst: Der Staub einer vertrockneten Leiche, über eine Quadratelle ausgebreitet, würde eine Schicht von einem dreiunddreißigstel Zoll Stärke ergeben. Davon ausgehend ergäbe die Gesamtmenge eine fast meilenstarke Lage Leichenhumus auf der gesamten Erdoberfläche, und das ist offenkundig falsch.«
Ein Anhänger dieser Sekte, der hier, wo er die gewohnten Seile
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