Die Augen der Ueberwelt
ein Mann, dessen persönliche Anschauung, vermutlichdurch sein ungesundes, hageres und düsteres Äußeres geprägt, besonders kleinlich war. Nun leerte er auch noch seinen Becher bedachtsam bis zum allerletzten Tropfen, was Cugel noch aufreizender fand. Dann stand er auf. »Ich ziehe mich in meine Kammer zurück«, erklärte er.
Als er sich vom Tisch abwandte, stolzierte ein gefährlich aussehender Bursche durch die Schankstube und rempelte ihn an. Voynod wies ihn scharf zurecht. »Wie wagt Ihr, so mit mir zu reden?« brüllte der Bursche. »Zieht das Schwert und verteidigt Euch, wenn
Ihr nicht wollt, daß ich Euch die Nase abhacke!«
Und schon zog er die Klinge.
»Wie Ihr wollt«, erwiderte Voynod. »Einen Augenblick, ich hole mein Schwert.« Er zwinkerte Cugel zu und rieb seine Klinge mit der Salbe ein, dann wandte er sich wieder an den Burschen.
»Macht Euch auf den Tod bereit!« Siegesgewiß sprang er auf ihn zu. Der Bursche, der die Salbung der Klinge mitangesehen hatte, rechnete mit Magie und stand vor Angst wie angewurzelt. Mit großartiger Geste stach Voynod ihm die Klinge ins Herz und wischte sie schließlich an der Mütze des Burschen ab.
Die Begleiter des jungen Mannes auf der langen Bank wollten aufspringen, hielten jedoch inne, als Voynod sich ihnen zuwandte und von oben herab sagte: »Hütet euch, ihr Bürschchen. Seht, was mit eurem Freundchen passiert ist! Er starb durch meine magische Klinge, die aus bestem Stahl ist und Stein und Eisen wie Butter durchtrennt. Seht her!« Voynod hieb nach einem Holzpfeiler. Die Klinge, die dabei einen Eisenhalter traf, zerbrach in Dutzend Stücke. Bestürzt starrte Voynod darauf, und schon kamen die Kameraden des Toten herbei.
»Na, was ist mit Eurer magischen Klinge? Unsere sind aus einfachem Stahl, aber sie beißen tief!« Und ehe er es sich versehen hatte, erlitt Voynod das Schicksal seines Schwertes. Nun wandten die Burschen sich Cugel zu. »Was ist mit Euch? Wollt Ihr das Los Eures Freundes teilen?«
»Keinesfalls!« antwortete Cugel hastig. »Er war nicht mein Freund, sondern mein Diener, der meinen Beutel trug. Ich bin ein Magier. Seht dieses Rohr! Ich blase blaues Zauberpulver auf den ersten, der mir zu nahe tritt!«
Die Burschen zuckten die Schultern und drehten sich um. Cugel nahm Voynods Beutel an sich und winkte dem Wirt. »Habt die Güte, diese Leichen zu entfernen, dann bringt mir noch einen Becher Glühwein.«
»Was ist mit der Rechnung Eures Freundes?« erkundigte sich der Wirt mürrisch.
»Ich werde sie bezahlen, keine Angst.«
Die Leichen wurden in den Hinterhof geschafft. Cugel trank seinen Wein, dann begab er sich in seine Schlafkammer, wo er den Inhalt von Voynods Beutel auf den Tisch leerte. Das Geld steckte er in sein Säkkel, die Talismane, Amulette und die restlichen magischen Hilfsmittel verstaute er in seinem eigenen Beutel, die Paste warf er fort. Zufrieden mit dem Ausgang des Tages, legte er sich ins Bett und schlief sogleich ein.
Am folgenden Tag schaute er sich in der Stadt um und erklomm den höchsten der acht Hügel. Der Ausblick, der sich ihm von da bot, war zugleich trostlos und beeindruckend. An einer Seite floß träge der breite Scamander vorbei. Die Straßen der Stadt unterteilten gewaltige Ruinen, unkrautüberwucherte Grundstücke, die weißgetünchten Häuschen der einfachen und die Paläste der reichen Bürger. Erze Damath war die größte Stadt, die Cugel je gesehen hatte, weit größer als alle in Almery oder Ascolais. Allerdings lag ein Großteil von Erze Damath jetzt in immer mehr zerfallenden Trümmern.
In die Stadt zurückgekehrt, suchte Cugel einen zugelassenen Landeskundigen auf, bei dem er zunächst eine bestimmte Gebühr entrichten mußte, ehe er seine Fragen stellen durfte, nämlich, wie er am schnellsten und sichersten nach Almery gelangen konnte.
Der Weise erteilte keine eilige oder unüberlegte Antwort, sondern kramte einige Karten und dicke Bücher hervor. Nachdem er sie eingehend studiert hatte, sagte er zu Cugel: »Ich würde Euch zu folgendem Weg raten: Folgt dem Scamander nordwärts zum Asc, dann dem Asc bis zu einer Brücke mit sechs Pfeilern. Hier müßt Ihr Euch nordwärts wenden, das Magnatzgebirge überqueren, woraufhin Ihr einen Wald erreicht, der als der Große Erm bekannt ist. Durchquert ihn westwärts und begebt Euch dann zur Küste des Nordmeers. Dort müßt Ihr ein Boot bauen und Euch Wind und Strömung anvertrauen. Sollten sie Euch durch Zufall zum Land der Einstürzenden Mauer
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