Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
Vom Netzwerk:
mich besucht hatte, an seine drohenden Augen. Und dann bin ich im Rollstuhl ganz klein geworden. Ama . Ich hatte Angst um sie, und das war noch schlimmer als die Hubschrauber.
    Von da an war ich sehr vorsichtig. Kaum hörte ich in der Ferne das dumpfe Summen der dicken, gedrungenen Hornissen und ihre schweren Flügel, die die Luft durchschnitten, stopfte ich mir die Ohren zu, biss mir auf die Unterlippe und schloss die Augen. Keine Angst, die tun dir nichts. Sie beschützen uns doch. Bald sind sie weg. Ich hörte nicht hin. Insgeheim flehte ich meine Mutter um Beistand an, sie war die Einzige, die dem Krach all dieser Ungeheuer, die über mich herfielen, Einhalt gebieten konnte.
    Nach und nach ist meine Erinnerung verwischt – vermutlich wegen der vielen Beruhigungsmittel, die ich schlucken musste. Schleichend lösten sie mein Denken auf, löschten meine Vergangenheit aus. Ich erinnerte mich ganz deutlich an den Moment, als die schwarzgekleideten Männer uns auseinandergerissen hatten – und wie ich mich daran erinnerte –, aber sonst war alles wirr. Ein Durcheinander loser Eindrücke, die keinerlei Sinn ergaben. Daraus stach ein klares Bild heraus, ein einziges, keine Ahnung, warum es ausgerechnet dieses war: eine kleine Grünanlage mit einem Karussell voller Kinder.
    Ich stecke mittendrin, die größeren schubsen mich. Trotzdem lache ich, drehe mich mit der Drehscheibe im Kreis und sehe bei jeder Runde meine Mutter, die mit anderen Frauen auf einer Bank sitzt. Die anderen Frauen sind hässlich, die Haut von Allergien zerfressen, das Lächeln von Zahnstümpfen entstellt. Neben ihnen sieht meine Mutter aus wie eine Königin, ein Engel, dem der allgemeine Verfall wundersamerweise nichts anhaben kann.
    Um sie nicht zu vergessen, beschwor ich die Szene immer wieder herauf, die Grünanlage, das Karussell und das unversehrte Gesicht meiner Mutter. Aber das hat nicht viel genützt: Die Beruhigungsmittel haben mein Gedächtnis immer weiter aufgezehrt, mein Engel ist jeden Tag ein Stückchen höher entflogen.
    Jeden Morgen wurde ich gestreichelt, mal kam ein Mann, mal war es eine Frau. Minutenlang strichen sie mir über den Handrücken, ließen ihre Finger dann langsam auf meine Handfläche gleiten und umschlossen sie schließlich, ohne Druck auszuüben. Ich verkrampfte mich unter den Gurten – es war so abstoßend. Aber ich versuchte erst gar nicht, mich zu wehren. Es hätte keinen Sinn gehabt: Ich war ihnen ausgeliefert.
    Nach der Hand kamen die Arme dran, die Schultern und der Hals. Dann die Füße, die Fesseln, die Waden, die Oberschenkel. Streicheleinheiten, Massageeinlagen, mal zart, mal kraftvoll, die mich fast ohnmächtig werden ließen.
    Im Lauf der Monate wurde der Ekel schwächer. Ob aus Gewöhnung oder Resignation oder beidem, kann ich nicht sagen. Ich schaffte es, mich an jeder beliebigen Stelle berühren zu lassen, ohne mich zu sträuben, ohne mich dagegen aufzulehnen. Ich war nicht mehr die wilde kleine Bestie, die sie damals aufgenommen hatten. Ich war fügsam geworden, hatte mich zähmen lassen, wenn man so will.
    Die Verwandlung fand jedoch nur an der Oberfläche statt, mein wahres Wesen blieb davon unberührt. Trotz aller Bemühungen und unzähliger Massagesitzungen, die sie mir Jahr um Jahr als Pflegebehandlung aufzwangen, ist es ihnen nicht gelungen, den Widerwillen zu besiegen, der mich bei jeder Berührung zusammenzucken lässt. Sie haben den Impuls nicht ausgeschaltet, der mich bis heute dazu bringt, möglichst jeden Hautkontakt mit anderen zu vermeiden.
    Nach einer Weile hat die Sonde die Schleimhäute gereizt. Sie haben sie mir abgenommen. Die Tortur begann von neuem, die Brühen, die Breie, die Pampen. Kaum sah ich den kleinen Löffel auf mich zukommen, erwachte ich aus meiner Benommenheit und zeigte die Krallen. Der Essensgestank wirkte stärker als jedes Beruhigungsmittel.
    Ich konnte nicht begreifen, warum sie so sehr darauf versessen waren, mir diesen Schweinefraß einzutrichtern. Meine Mutter hatte als Einzige gewusst, was mir schmeckte. Es war lauwarm, absolut köstlich und zerging einem auf der Zunge. Wenn sie den Löffel vergaß, steckte ich die Hand in die Dose und aß mit den Fingern. Ich war gierig, ich konnte nicht genug davon bekommen, ich stopfte mich damit voll. Dieses Aroma, diese Konsistenz. Ich musste unablässig daran denken, und das bestärkte mich in meinem Widerstand.
    Ich war ihnen aber nicht gewachsen. Ihnen standen Gurte zur Verfügung, und Mundspreizer. Dagegen half

Weitere Kostenlose Bücher