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Ohne jede Spur

Ohne jede Spur

Titel: Ohne jede Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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1.   Kapitel
    Ich habe mich schon immer gefragt, was in Leuten vor sich geht, die nur noch wenige Stunden zu leben haben. Spüren sie, dass etwas Grauenvolles passieren wird? Wünschen sie sich ihre Liebsten in der Nähe? Oder geschieht da einfach nur etwas, was wie vieles andere auch unausweichlich ist? Die Mutter von vier Kindern, die ihre Kleinen zu Bett bringt, in Gedanken bereits bei der Fahrgemeinschaft am nächsten Tag und der Wäsche, die noch zu machen ist – nimmt sie das Ende womöglich wahr wie ein unheimliches Knarren der Dielen im Flur? Oder die Sechzehnjährige, die davon träumt, am Samstag mit ihrem Freund shoppen zu gehen, dann aber die Augen aufschlägt und feststellt, dass sie nicht allein in ihrem Zimmer ist. Oder der Vater, der plötzlich aufwacht und denkt:
Leck mich doch
, kurz bevor ihn der Hammer zwischen die Augen trifft.
    In den letzten sechs Stunden meiner Welt, so wie ich sie kannte, gebe ich Ree zu essen. Käsemakkaroni, dazu die Reste vom Putenbraten. Ich schneide einen Apfel in Spalten. Sie isst das feste weiße Fruchtfleisch und lässt die rote Schale zurück. Ich erkläre ihr, dass unter der Schale
die meisten Vitamine sitzen. Ree ist vier, aber sie führt sich auf, als wäre sie vierzehn, verdreht die Augen. Wir haben darüber gestritten, was sie anzieht – sie möchte kurze Röcke, ihr Vater und ich wollen, dass sie längere trägt, sie verlangt einen Bikini, wir bestehen auf einem Einteiler. Schätze, es ist nur noch eine Frage von Wochen, bis sie um den Autoschlüssel bittet.
    Danach will Ree auf dem Dachboden auf «Schatzsuche» gehen. Ich sage, es sei Zeit zu baden. Richtiger: zu duschen. Wir steigen immer zusammen in die alte Wanne oben im Badezimmer. Das machen wir so, seit sie zur Welt gekommen ist. Ree seift ihre beiden Barbies und die Quietscheente ein. Ich seife Ree ein. Am Ende duften wir beide nach Lavendel, und das ganze Badezimmer mit seinen schwarz-weißen Fliesen steht unter Dampf.
    Ich mag unser Ritual im Anschluss an das Bad. Wir hüllen uns in große Handtücher und hüpfen durch den kühlen Flur in Jasons und mein Schlafzimmer, wo wir uns auf dem großen Bett ausstrecken, Seite an Seite wohlig eingemummelt. Nur die Zehen schauen heraus und berühren einander. Unser dicker gelbroter Kater Mr   Smith springt aufs Bett, stiert uns aus seinen großen goldenen Augen an und zuckt mit dem Schwanz.
    «Was hat dir heute am besten gefallen?», frage ich meine Tochter.
    Ree rümpft die Nase. «Ich weiß nicht mehr.»
    Mr   Smith findet am Kopfende ein gemütliches Fleckchen und fängt an, sich zu putzen. Er ahnt, was jetzt kommt.
    «Für mich war’s das Schönste, von der Schule nach Hause zu kommen und mit einer Umarmung begrüßt zu
werden.» Ich bin Lehrerin. Es ist Mittwoch. Mittwochs bin ich gegen vier zu Hause, Jason geht um fünf. Ree kennt es nicht anders: Daddy ist tagsüber für sie da, Mommy am Abend und in der Nacht. Wir wollen nicht, dass sich Fremde um unser Kind kümmern.
    «Kann ich mir einen Film angucken?», fragt Ree. Wenn wir sie ließen, würde sie nur noch vor dem Fernseher sitzen.
    «Nein», antworte ich daher. «Erzähl mir lieber, was ihr heute in der Vorschule gemacht habt.»
    «Nur einen kurzen Film», bettelt sie und schlägt auch gleich vor: «Veggie Tales!»
    «Nein», wiederhole ich und kitzle sie unterm Kinn. Es ist fast acht, und ich weiß, sie ist müde und bockig. So kurz vor dem Schlafengehen möchte ich nicht, dass es zum Streit kommt. «So, und jetzt erzähl mir mal, wie’s in der Schule war. Was gab’s zu essen?»
    Sie löst sich aus meinen Armen und kitzelt mich unterm Kinn. «Möhren.»
    «Ach, ja?» Ich kitzle sie hinterm Ohr. «Wer hat sie mitgebracht?»
    «Heidi.»
    Sie versucht sich an meinen Achseln. Ich halte sie davon ab. «Hattet ihr Kunst oder Musik?»
    «Musik.»
    «Wurde gesungen oder ein Instrument gespielt?»
    «Gitarre!»
    Sie hat sich aus dem Handtuch geschält und knufft und kitzelt mich, wo immer sie mit ihren kleinen Fingern schnell genug hinlangen kann. Es ist das letzte Aufbäumen
vor dem Zusammenbruch am Ende des Tages. Ich wehre sie ab, wälze mich lachend zur Seite und lande mit einem Plumps auf dem Holzboden, was sie noch mehr zum Kichern bringt. Mr   Smith hat keinen Sinn für unser allabendliches Spielchen und verlässt das Zimmer.
    Ich hole ein langes T-Shirt für mich und ein Nachthemdchen für sie. Gemeinsam putzen wir uns die Zähne vor dem ovalen Spiegel. Ree gefällt es, wenn wir

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