Die Beschenkte
veränderte ihre Stellung und schwankte leicht, ihr Körper war so angespannt wie seiner. Sie hatte nicht viel Zeit, um sich zu entscheiden. Er wusste, wer sie war. Doch wenn er ein Lienid war, wollte sie ihn nicht töten.
»Haben Sie nichts zu sagen, Lady? Sie glauben sicher nicht, dass ich Sie ohne eine Erklärung weitergehen lasse?« In seiner Stimme lag etwas Spielerisches. Sie beobachtete ihn ruhig. Er streckte in einer fließenden Bewegung die Arme, und ihre Augen entdeckten die goldenen Ringe, die an seinen Fingern blinkten. Das reichte. Der Schmuck in seinen Ohren, die Ringe – es war eindeutig.
»Sie sind ein Lienid«, sagte sie.
»Sie haben gute Augen.«
»Nicht gut genug, um die Farben Ihrer Augen zu erkennen.«
Er lachte. »Ich glaube, ich kenne die der Ihren.«
Die Vernunft riet ihr, ihn zu töten. »Sie sind der Richtige, um von fern von zu Hause zu reden«, sagte sie. »Was macht ein Lienid am Hof von König Murgon?«
»Ich nenne Ihnen meine Gründe, wenn Sie mir Ihre sagen.«
»Ich werde Ihnen gar nichts sagen, und Sie müssen mich vorbeilassen.«
»Muss ich das?«
»Wenn Sie es nicht tun, muss ich Sie zwingen.«
»Meinen Sie, dass Sie das können?«
Sie täuschte eine Rechte vor und er wich mühelos aus. Sie wiederholte es schneller. Wieder bog er sich zur Seite. Er war sehr gut. Aber sie war Katsa.
»Ich weiß, dass ich es kann«, sagte sie.
»So!« Es klang belustigt. »Aber Sie könnten Stunden dazu brauchen.«
Warum spielte er mit ihr? Amüsierte er sich immer mit illegalen Eindringlingen? Vielleicht war er selbst ein Krimineller, ein krimineller Beschenkter. Jeder andere hätte inzwischen Alarm geschlagen. Und wenn er wirklich ein Verbrecher war, machte ihn das zum Verbündeten oder zum Feind? Würde ein Lienid es nicht begrüßen, dass sie den gefangenen Lienid befreit hatte? Ja – falls er kein Verräter war. Und falls dieser Lienid überhaupt wusste, wer in Murgons Verliesen gefangen gehalten wurde. Murgon hatte das Geheimnis gut bewahrt.
Der Rat würde ihr empfehlen, ihn zu töten. Der Rat würde sagen, sie bringe alle in Gefahr, wenn sie einen Mann am Leben ließ, der ihre Identität kannte. Aber dieser Mann war anders als jeder Gauner, dem sie je begegnet war. Er kam ihr weder brutal vor noch dumm oder bedrohlich.
Sie konnte nicht einen Lienid töten, während sie einen anderen rettete.
Sie war verrückt und würde es wahrscheinlich bereuen, aber sie würde es nicht tun.
»Ich vertraue Ihnen«, sagte er plötzlich. Er gab den Weg frei und winkte sie weiter. Sie fand ihn sehr sonderbar undimpulsiv, doch sie merkte, dass er nicht mehr so wachsam war, und sie versäumte nie eine Gelegenheit. Sofort schleuderte sie den Fuß hoch und traf ihn mit dem Stiefel an der Stirn. Er riss überrascht die Augen auf und fiel zu Boden.
»Vielleicht war das unnötig.« Sie streckte seine schweren, betäubten Gliedmaßen aus. »Aber ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, und ich habe schon genug riskiert, indem ich dich am Leben lasse.« Sie holte die Pillen aus ihrem Ärmel und legte ihm eine in den Mund. Dann drehte sie sein Gesicht zum Fackellicht. Er war jünger, als sie gedacht hatte, nicht viel älter als sie, höchstens neunzehn oder zwanzig. Ein wenig Blut lief ihm über die Stirn am Ohr entlang. Sein Hemdkragen war offen und das Licht spielte auf der Linie seines Schlüsselbeins.
Was für ein seltsamer Mann. Vielleicht wusste Raffin, wer er war.
Sie schüttelte sich. Die anderen warteten schon.
Sie rannte.
Sie ritten schnell. Den alten Mann hatten sie aufs Pferd gebunden, er war zu schwach, um sich aufrecht zu halten. Einmal hielten sie an und hüllten ihn in weitere Decken.
Katsa war ungeduldig und wollte weiter. »Weiß er nicht, dass Mittsommer ist?«
»Er ist durchfroren, My Lady«, sagte Oll. »Er zittert, er ist krank. Unsere Rettung ist sinnlos, wenn er dabei umkommt.«
Sie überlegten anzuhalten, ein Feuer zu machen, doch dafür hatten sie keine Zeit. Sie mussten Randa City vor Tagesanbruch erreichen, sonst würden sie entdeckt.
Vielleicht hätte ich ihn töten sollen, dachte Katsa, während sie durch dunkle Wälder jagten. Vielleicht hätte ich ihn töten sollen. Er wusste, wer ich bin.
Aber er hatte weder bedrohlich noch verdächtig gewirkt. Und vor allem war er neugierig gewesen. Er hatte ihr vertraut.
Andererseits hatte er von der Fährte betäubter Wachleute, die sie hinterlassen hatte, nichts gewusst. Und er würde ihr nicht mehr vertrauen,
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