Die Betrogenen
die seit langem die Öffentlichkeit mied. «Es muß doch ewig her sein, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben», hatte sie gerade zu ihm gesagt, als Karl dazugetreten war. «Daß man sich überhaupt noch wiedererkennt!» Aber Bittner, hatte Karl da eingeworfen, habe sich doch seit zwanzig Jahren nicht verändert!
Da hatten Bittners schöne Augen überrascht aufgeblitzt. Ein Lächeln war über sein Gesicht gehuscht, das sich dadurch verjüngt und dem Kompliment den Lügenstachelgezogen hatte. Karl hatte sich verabschiedet, seinen Koffer genommen, dessen Rollen sich auf dem gepflasterten Weg zum Bahnhof verkanteten, und Bittner mit der linken Hand noch einmal nachgewinkt.
Sie waren am Grab angelangt. Der Geistliche erhob das Wort. Er wolle ein altes chinesisches Märchen erzählen, wie der Hingegangene es womöglich geschätzt haben würde. Immerhin, er hatte sich kundig gemacht, oder hatte er Bittner persönlich gekannt? Karl versuchte, sich zu sammeln und der Leichenrede zu lauschen, von der ihn die Frage nach Nora doch immer wieder unpassend ablenkte. Daß sich sein Washington-Plan zerschlagen hatte, war weniger Fügung als bloßes Mißgeschick. Vielleicht hatte ihr Flug Verspätung und sie käme noch?
Da waren, begann der Pfarrer, Bauern auf dem Feld vom Wetter überrascht worden und hatten sich in eine Heuhütte gerettet. Aber der Blitz zog nicht ab, sondern kreiste immer um die Hütte herum. Endlich hatten die Bauern begriffen, daß der Blitz einen von ihnen meinte und beschlossen, ihre Mützen vor die Tür zu hängen. Wessen Mütze der Sturm zuerst abreißen würde, der sollte hinaus gejagt werden, damit nicht wegen eines Sünders alle Schuldlosen mit verdürben. Kaum hingen die Mützen draußen, packte ein Windstoß die Mütze des Bauern Yin und riß sie weit übers Feld. Sogleich stießen die Bauern Yin hinaus. Im selben Augenblick schlug der Blitzin die Hütte ein, denn Yin – so schloß der seinerseits etwas gelbliche Pfarrer, vielleicht hatte er Probleme mit der Galle – war der einzige Gerechte.
War nicht aber auch Arthur Bittner ein solcher Gerechter gewesen? Und jetzt hatte er die Heuhütte voller Sünder, die wir doch alle waren, verlassen.
Karl fragte sich, warum der einzig Verschonte zugleich der einzige sein sollte, der vor ihnen in der Grube lag. Aber vielleicht war das die Pointe der Rede. Ob Bittner wirklich ein Gerechter war, diese andere Frage ließ man besser erst einmal auf sich beruhen. Künstler sein und Gerechter schloß sich in der Regel aus.
Ob sie aus stummem Protest nicht angereist war? Vielleicht war sie auch krank. Blasenentzündungen konnten ins Nierenbecken gehen. Die Aussichten, sie wiederzusehen, waren jedenfalls schlecht, wenn sie sogar jetzt in Amerika blieb. Karl erinnerte sich daran, wie ihre Lippen geschimmert hatten. Ihr Leberfleck war so groß wie ein Kupferpfennig. Der Blick des Taxifahreres fiel ihm ein, der sie auf ihrer Fahrt zu Paolo im Rückspiegel gemustert hatte. War es ein neugieriger oder ein hungriger Blick?
Auf der Heimfahrt saß er im Zugrestaurant und bestellte Tee. Vor dem Leichenschmaus hatte er sich gedrückt, den hatte er noch nie ertragen; diskret oder à l’Espagnol hatte er sich aus der Trauerrunde entfernt.Nora würde jedenfalls nicht mehr erscheinen. Senta hatte ihm noch nachgewinkt, aber Karl blieb jetzt lieber allein.
Er schaute aus dem Zugfenster auf blühenden Raps, über dem Krähen kreisten. Jetzt war er tot, der große Mann; heimgegangen, wie der Pfarrer gesagt hatte. Karl spürte, wie sich sein Herz wieder zusammenzog. Er hatte nie verstanden, wenn es in Traueranzeigen hieß, man vermisse den Verstorbenen schon jetzt. Würde man ihn in zehn Jahren noch schmerzlicher vermissen? Und in dreißig Jahren? Das schien gegen die menschliche Natur, war aber in Ausnahmefällen wohl möglich.
Der Schaffner kam und kontrollierte die Fahrkarten, Karl fand seine schließlich in der linken inneren Jackettasche. Der Stift war wieder durchs Loch ins Futter gerutscht und lag störend waagrecht im Saum. Wann war ihm das zum letzten Mal passiert? Bei der Beerdigung ihres Verlegers. Am selben Abend hatte Karl noch mit Bittner gesessen, in seinen Augen hatte es feucht geglitzert. Die Aquariumsfische, erinnerte er sich jetzt, hatten gelbe Kotfädchen wie Lamettastreifen hinter sich hergezogen.
Er zupfte den Teebeutel aus der Tasse und suchte nach einer passenden Ablage, bevor er ihn schließlich auf den Rand der Untertasse schob. Daß man sich an
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