Die Blume von Surinam
festhielt und nicht von sich aus neue Wege ging. So lief sie weiterhin stets barfuß und hatte auch Karini nie Schuhe gekauft. »Die brauchen wir nicht«, hatte sie lapidar geantwortet, als Karini als kleines Mädchen einmal deswegen gequengelt hatte. Sklaven war das Tragen von Schuhen stets verboten gewesen, und wie ihre Mutter hatten viele der Älteren sie später ausprobiert, für unbequem befunden und als Fußbekleidung verworfen. Auf der Plantage störte es Karini nicht, barfuß herumzulaufen, aber in der Stadt beäugte sie die Hausmädchen mit ihren glänzenden schwarzen Lackschuhen manchmal schon mit einem Gefühl von Neid.
Erleichtert bemerkte sie jetzt, dass sich endlich die große Eingangstür öffnete und eine Schar Schüler aus dem Schulgebäude strömte. Sie hüpfte vorsichtig von der Mauer und hielt das Tablett für Masra Henry und Masra Martin bereit.
Nicht mehr lange, dann würde sie nach Hause laufen können und von dort zu ihrem eigenen Unterricht.
Kapitel 2
W ie kommt dieses Tier hier nur immer herauf?« Juliette Riard schnappte sich die große Schildkröte und trug sie mit ausgestreckten Armen vor sich her, die Stufen der vorderen Veranda des Plantagenhauses hinunter. Das Tier wog schwer und strampelte eifrig mit seinen kurzen Beinen. Julie, wie sie in ihrer Kindheit gerufen worden war und heute noch von ihrem Mann genannt wurde, setzte das Reptil in den Schatten unter einen großen Busch und ließ den Blick über die Front des Haupthauses von Rozenburg schweifen. Das weiß gestrichene Holz glänzte in der Sonne und hob den Bau farblich vom satten Grün der umliegenden Landschaft ab. Ein paar Ausbesserungen waren an der Fassade nötig, bemerkte sie wieder einmal, als sie an einer Hausecke leicht grünliche Flecken entdeckte. Das Klima in diesem Land nagte auch an den Bauwerken. Und die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten ein Übriges getan. Es war Ende Mai, und die Regenzeit würde noch einige Wochen andauern. Julie beschloss, die Arbeit in Auftrag zu geben, sobald das Wetter es zuließ. Ein paar Gulden würden sie dieses Jahr in das Haus investieren müssen.
Dann blieb ihr Blick an ihrem Mann Jean hängen, der auf der Veranda über seine Unterlagen gebeugt saß. Kurz blitzte die Erinnerung an ihre ersten Zusammentreffen auf. Sie musste unwillkürlich lächeln. Damals hatten sie oft stundenlang auf dieser Veranda gesessen, Julie noch als Ehefrau von Karl Leevken und Jean als Buchhalter der Plantage Rozenburg. War es wirklich schon siebzehn Jahre her, seit sie an einem heißen Märztagdas Schiff verlassen hatte? Manchmal kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, manchmal aber auch, als wäre es erst gestern gewesen. Und noch jemand war damals auf der Veranda zugegen gewesen: Nico, der Papagei, der Julie in ihren ersten Jahren als einzig guter Geist auf der Plantage begleitet hatte. Julie seufzte. Nico hatte die Plantage verlassen wie andere Geister auch. Dafür gab es nun die Schildkröte, die auf der Plantage herumkroch. Julie beobachtete, wie das Tier sich zwischen die Blätter zurückzog. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Sohn, der der Schildkröte sogar einen Namen gegeben hatte, Monks. Nach einer zwielichtigen Gestalt aus einem Abenteuerbuch, das er gerne las. Julie fand den Namen durchaus passend für das Tier, das die Angewohnheit hatte, immer wieder an Orten aufzutauchen, an denen man eine Schildkröte nicht unbedingt erwartete. Wie das Tier es schaffte, die Veranda zu erklimmen, war Julie nach wie vor ein Rätsel, es gelegentlich irgendwo im großen Plantagenhaus vorzufinden, schon keine Überraschung mehr. Als die Schildkröte es eines Tages sogar bis auf die Arbeitsplatte in Livs Küche geschafft hatte, was die schwarze Haushälterin mit lautem Gezeter und der Drohung quittiert hatte, eine schmackhafte Suppe aus dem Tier zu kochen, dünkte Julie, dass irgendjemand auf der Plantage diesem Tier bei seinen Ausflügen behilflich war. Vielleicht die Jungen? Diese hatten Monks auf jeden Fall mit angstvollem Blick schnell vor Livs Kochtopf gerettet.
Die Jungen. Ging es ihnen in der Stadt gut? Die Monate ohne sie auf der Plantage kamen Julie immer unendlich lang vor; waren sie dann vor Ort, schien die Zeit förmlich zu rasen. Julie vermisste sie schrecklich, und auch wenn sie versuchte, sich abzulenken, erinnerten überall kleine, alltägliche Dinge an die beiden und füllten ihr Herz mit Sehnsucht und, wie sie sich mehr als einmal eingestanden hatte, mit Trauer, begleitet von einem
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