Die Botschaft des Feuers
waren, hatte sich eine lange Menschenschlange gebildet. Etwa fünfzig oder sechzig Frauen in fadenscheinigen Mänteln und Kopftüchern, die im Schnee auf den täglichen Gedenkgottesdienst warteten, bekreuzigten sich auf die typische Weise der orthodoxen Christen, wie in religiöse Raserei verfallen, während sie zu dem Bild des Erlösers an der äußeren Kirchenwand aufblickten.
Diese in einem klagenden Singsang betenden Frauen, die dicht gedrängt im wirbelnden Schnee verharrten, bildeten eine Barriere, die beinahe so unüberwindlich war wie die Kette der bewaffneten Wachposten auf dem Klostergelände. Und gemäß der alten sowjetischen Tradition waren sie nicht bereit, sich von der Stelle zu bewegen und Platz zu machen, um jemanden durch ihre Ränge hindurchzulassen. Solarin wollte möglichst schnell an ihnen vorbei.
Während sie ihr Tempo beschleunigten, um die lange Schlange zu umgehen, sah Solarin über die Köpfe der Frauen hinweg das Kunstmuseum und die dahinterliegende Sakristei und Schatzkammer, wohin sie unterwegs waren.
An der Fassade des Kunstmuseums hing ein farbenfrohes Transparent mit einem Gemälde und der handgemalten Aufschrift in Russisch und Englisch: FÜNFUNDSIEBZIG JAHRE SOWJETISCHE PALECH-MALEREI .
Palech-Kunst war die Bezeichnung für die Lackgemälde, auf denen meist Szenen aus Märchen oder bäuerliche Idylle dargestellt wurden. Über lange Zeit hinweg waren diese Bilder die einzige Art von naiver oder »abergläubischer« Kunst gewesen, die das kommunistische Regime geduldet hatte, und solche Bilder schmückten fast alles in Russland, von winzigen Pappmascheeschachteln bis hin zu ganzen Wänden wie denen des Pionierpalastes, wo Solarin und fünfzig weitere Jungen mehr als zwölf Jahre lang ihre Verteidigungen und Gegenangriffe geübt hatten. Da der junge Alexander damals keinen Zugang zu Märchenbüchern, Comic-Heften oder Filmen gehabt hatte, waren diese Palech-Gemälde das Einzige gewesen, was ihn mit der Welt der Fantasie in Verbindung gebracht hatte.
Die Szene auf dem Transparent war von einem berühmten Bild abgemalt, das ihm sehr vertraut war. Es schien ihn an etwas Wichtiges zu erinnern, und er betrachtete es eingehend, während er mit seiner Tochter an der langen Schlange inbrünstig betender Frauen entlangging.
Es handelte sich um eine Szene aus dem berühmtesten russischen Märchen, der Geschichte vom Feuervogel, die schon viele Künstler von Puschkin bis Strawinsky zu großen Werken inspiriert hatte. Auf dem Bild war zu sehen, wie Zarewitsch Iwan, der sich die ganze Nacht im Garten seines Vaters versteckt hatte, endlich den Feuervogel erblickt, der ständig die goldenen Äpfel des Zaren frisst, und versucht, ihn einzufangen. Der Feuervogel entkommt zwar, aber es gelingt Iwan, ihm eine seiner wunderschönen Federn auszureißen.
Dies war das bekannte Werk von Alexander Kotuchin, das im Palast der Pioniere hing. Kotuchin gehörte zur ersten Generation der Palech-Künstler aus den Dreißigerjahren, von dem es hieß, er habe in den Symbolen seiner Gemälde geheime Botschaften versteckt, die für die staatlichen Zensoren kaum zu durchschauen waren, während die analphabetischen Bauern sie sehr wohl verstanden. Solarin fragte sich, was diese jahrzehntealte Botschaft wohl bedeutete und an wen sie gerichtet war.
Endlich hatten sie das Ende der Warteschlange erreicht. Als Solarin und Xie sich wieder in Richtung Sakristei bewegten, löste sich eine gebeugt gehende Frau, die einen Zinkeimer trug, aus der Schlange und schob sich, während sie sich unablässig bekreuzigte, an ihnen vorbei. Sie stieß leicht mit Xie zusammen, murmelte eine Entschuldigung und setzte ihren Weg über den Klosterhof fort.
Gleich darauf spürte Solarin, dass Xie an seiner Hand zog. Als er seine Tochter fragend anschaute, sah er, wie sie eine kleine geprägte Karte aus der Manteltasche holte - anscheinend eine Eintrittskarte für die Ausstellung, denn sie zierte dasselbe Bild wie das Transparent.
»Wo hast du das denn her?«, fragte er und fürchtete zugleich, die Antwort bereits zu kennen. Er schaute der alten Frau nach, doch die war schon nicht mehr zu sehen.
»Das hat die Frau mit dem Eimer mir in die Tasche gesteckt«, sagte Xie.
Solarin riss seiner Tochter die Karte, die sie gerade umgedreht hatte, aus der Hand. Auf der Rückseite war ein kleines Bild von einem fliegenden Vogel in einem achtzackigen islamischen Stern aufgeklebt, und darunter standen drei russische Worte:
OΠáCHO бeрéчьcя
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