Die Botschaft des Feuers
Großmeistern gewesen war, auf Schritt und Tritt begleitet hatten.
Aber diese Männer, das wusste Solarin, gehörten zu dem berüchtigten Geheimdienst der »Mönchs-Mafia von Moskau«, wie sie in ganz Russland genannt wurden. Es wurde gemunkelt, dass die orthodoxe Kirche eine alles andere als heilige
Allianz mit ehemaligen KGB-Leuten, Rotarmisten und anderen »nationalistischen« Bewegungen eingegangen war. Und genau das war es, was Solarin insgeheim befürchtete - dass das heutige Spiel auf Betreiben der Mönche von Sagorsk in das Kloster verlegt worden war.
Als sie auf dem Weg zur Sakristei, wo das Spiel stattfinden sollte, über den offenen Platz an der Heilig-Geist-Kirche vorbeigingen, schaute Solarin seine Tochter Alexandra an - die kleine Xie -, die er immer noch an der Hand hielt. Sie lächelte ihn an, die grünen Augen voller Vertrauen, und es brach ihm beinahe das Herz. Wie war es nur möglich, dass er und Kat ein so wundervolles Geschöpf hervorgebracht hatten?
Solarin hatte nie Angst gekannt - wirkliche Angst -, bis seine Tochter geboren wurde. Er bemühte sich, nicht an die bis an die Zähne bewaffneten Wachmänner zu denken, die von den Mauern auf sie herabblickten. Er war mit seiner Tochter auf dem Weg in die Höhle des Löwen, und der Gedanke drehte ihm den Magen um, aber es war unvermeidlich.
Schach bedeutete seiner Tochter alles. Ohne Schach fühlte sie sich wie ein Fisch an Land. Vielleicht war das zum Teil seine Schuld - oder vielleicht lag es in ihren Genen. Und obwohl alle dagegen gewesen waren - vor allem ihre Mutter -, würde diese Meisterschaft das wichtigste Ereignis in Xies jungem Leben sein.
Nichts hatte sie erschüttern können im Lauf der anstrengenden Woche - nicht die klirrende Kälte, nicht der scheußliche Schneeregen und auch nicht das grauenhafte Essen, das man ihnen vorsetzte: Schwarzbrot, schwarzer Tee und Haferschleim. Außerhalb der Welt des Schachs schien sie gar nichts wahrzunehmen. Die ganze Woche über hatte sie gespielt wie ein stachanowist , hatte in einer Partie nach der anderen Punkte angehäuft wie einer jener emsigen Bergmänner, der Lore
um Lore füllte. Nur ein einziges Spiel hatte sie bisher verloren. Sie wussten beide, dass sie kein zweites verlieren durfte.
Er hatte einfach nicht anders gekonnt, als mit ihr hierherzureisen. Dieses Turnier - das Endspiel hier in Sagorsk - würde über die Zukunft seiner Tochter entscheiden. Dieses letzte Spiel musste sie gewinnen. Denn sie wussten beide, dass es Alexandra »Xie« Solarin - die nicht einmal zwölf Jahre alt war - zum jüngsten Großmeister aller Zeiten machen konnte.
Xie drückte die Hand ihres Vaters und zog sich den Schal vom Gesicht, um sprechen zu können. »Keine Sorge, Papa, diesmal schlage ich ihn.«
Ihr Gegner in der heutigen Partie würde Wartan Asow sein, das junge Schachgenie aus der Ukraine. Er war nur ein Jahr älter als Xie und der einzige Spieler, der sie bisher in diesem Turnier geschlagen hatte. Aber in Wirklichkeit hatte er sie gar nicht geschlagen; Xie hatte sich die Niederlage selbst zuzuschreiben.
Gegen den jungen Asow hatte Xie das Spiel mit der Königsindischen Verteidigung eröffnet, eine ihrer bevorzugten Eröffnungen, wie Solarin wusste, denn sie erlaubte dem ritterlichen Springer (stellvertretend für ihren Vater und Lehrer), über die Köpfe der anderen Figuren hinweg vorzustoßen und zum Angriff überzugehen. Nach einem gewagten Damenopfer, das ein Raunen unter den Zuschauern auslöste und ihr ein Übergewicht im Zentrum sicherte, hatte es so ausgesehen, als würde Solarins furchtlose kleine Kriegerin in den Abgrund stürzen und den jungen Asow in einer tödlichen Umarmung mit sich reißen. Aber es hatte nicht sollen sein.
Das Phänomen hatte einen Namen: Amaurosis Scacchistica , Schachblindheit. Jeder Spieler erlebte es irgendwann im Lauf
seiner Karriere. Missgriff nannten sie es lieber - das Nichterkennen einer Gefahrensituation. Solarin hatte es als ganz junger Spieler auch einmal erlebt. Es hatte sich angefühlt, als wäre er in einen Brunnen gefallen und würde in bodenlose Tiefe stürzen, ohne zu wissen, wo oben und unten war.
Xie war es bei all ihren Spielen nur ein einziges Mal passiert, aber Solarin wusste, dass es heute nicht noch einmal geschehen durfte.
Auf ihrem Weg zur Sakristei trafen Alexandra und ihr Vater auf ein unerwartetes menschliches Hindernis: Vor dem Beinhaus der berühmten Dreifaltigkeitskathedrale, in der die Gebeine des heiligen Sergius begraben
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