Die Brüder Karamasow
Figur abgab. In der Tat – etwas Unerhörtes ging vor in der Zelle. Seit vierzig oder fünfzig Jahren, seit der Zeit der früheren Starzen, pflegten sich Besucher hier zu versammeln, aber niemals geschah es anders als in tiefster Ehrfurcht. Fast alle Zugelassenen begriffen beim Betreten der Zelle, daß ihnen eine große Gnade widerfuhr. Viele sanken auf die Knie und standen während des gesamten Besuches nicht auf. Viele hochstehende Persönlichkeiten und hochgelehrte Männer, ja selbst Freidenker, die aus Neugier oder einem anderen Grunde gekommen waren, empfanden Respekt und taktvolles Benehmen als erste Pflicht, wenn sie in Begleitung oder zu einem Gespräch unter vier Augen die Zelle betraten, zumal es hier nicht um Geld ging: Auf der einen Seite war nur Liebe und Gnade und auf der anderen Reue und der sehnliche Wunsch, eine schwere seelische Frage zu entscheiden oder dem eigenen Herzen über einen schweren Moment hinwegzuhelfen. Fjodor Pawlowitschs Possenreißerei, die großen Mangel an Respekt vor dem Ort bekundete, rief deshalb bei den Zeugen, zumindest bei manchen, größtes Befremden und Erstaunen hervor. Die Priestermönche, die übrigens ihren Gesichtsausdruck nicht veränderten, warteten mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Worte des Starez, machten sich aber anscheinend schon bereit, wie Miussow aufzustehen. Aljoscha, der mit gesenktem Kopf dastand, war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Am sonderbarsten erschien ihm, daß sein Bruder Iwan Fjodorowitsch, der einzige, auf den er gehofft hatte, weil er allein genügend Einfluß auf den Vater hatte, ihn zurückzuhalten, jetzt regungslos, mit niedergeschlagenem Blick auf dem Stuhl saß und offenbar halb interessiert, halb neugierig abwartete, wie alles enden würde, so als wäre er selbst ganz unbeteiligt. Den Seminaristen Rakitin, mit dem er sehr gut bekannt war, mochte Aljoscha erst gar nicht ansehen: er kannte seine Gedanken, und zwar als einziger im ganzen Kloster.
»Verzeihen Sie mir«, wandte sich Miussow an den Starez, »wenn ich Ihnen gleichfalls an den unwürdigen Späßen beteiligt scheine. Ich bin nur insofern schuldig, als ich geglaubt habe, sogar ein Mensch wie Fjodor Pawlowitsch würde seine Pflicht begreifen, wenn er bei einer so geachteten Persönlichkeit zu Besuch ist. Ich ahnte nicht, daß ich mich allein, weil ich mit ihm hergekommen bin, würde entschuldigen müssen.«
Pjotr Alexandrowitsch sprach nicht zu Ende; er geriet völlig in Verwirrung und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Siel« sagte auf einmal der Starez, erhob sich auf seine schwachen Beine, nahm beide Hände Pjotr Alexandrowitschs und nötigte ihn, sich wieder in den Lehnstuhl zu setzen. »Beruhigen Sie sich. Ich bitte Sie ganz, besonders, mein Gast zu sein.« Er machte eine Verbeugung, wandte sich um und setzte sich wieder auf das kleine Sofa.
»Großer Starez, sagen Sie offen: Kränke ich Sie durch meine Lebhaftigkeit?« rief plötzlich Fjodor Pawlowitsch und umfaßte mit beiden Händen die Seitenlehnen des Sessels, bereit, aufzuspringen, je nachdem, wie die Antwort ausfallen würde.
»Ich bitte auch Sie inständig, sich nicht zu beunruhigen und sich keinen Zwang anzutun«, sagte der Starez in eindringlichem Ton. »Tun Sie sich keinen Zwang an, fühlen Sie sich wie zu Hause! Und was die Hauptsache ist, schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selbst; denn davon kommt alles.«
»Ganz wie zu Hause? Das heißt in meiner ganzen Natürlichkeit? Oh, das ist viel, allzuviel; trotzdem, ich bin gerührt und nehme an! Aber wissen Sie, gesegneter Vater, rufen Sie nicht nach meiner ganzen Natürlichkeit, riskieren Sie das nicht; so weit möchte selbst ich nicht gehen. Ich warne Sie in Ihrem eigenen Interesse. Na, und alles übrige liegt noch im Dunkel des Unbekannten, obgleich gewisse Leute gern eine genaue Schilderung von mir geben möchten. Das geht an Ihre Adresse, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, sage ich nur das eine: Ich fließe über vor Entzücken!« Er stand auf und sagte mit erhobenen Händen: »Selig der Leib, der dich trug, und die Brüste, die dich tränkten. Besonders die Brüste! Sie haben soeben durch Ihre Bemerkung: ›Schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selbst; denn davon kommt alles das!‹ bewiesen, daß Sie mich durchschaut haben. Wenn ich nämlich irgendwo unter Leuten bin, will es mir immer scheinen, als sei ich gemeiner als sie, als hielten mich alle für einen Possenreißer. Und
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