Die Brueder Karamasow
nämlich der Leichnam seines alten Vaters! Handelte es sich um einen gewöhnlichen Mord, so würden auch Sie bei der Nichtigkeit, der Zweifelhaftigkeit und dem phantastischen Charakter jeder einzelnen Tatsache die Beschuldigung zurückweisen oder wenigstens Bedenken haben, das Schicksal eines Menschen lediglich auf Grund eines gegen ihn bestehenden Vorurteils zu zerstören, das er leider verdient hat! Aber es handelt sich hier nicht um gewöhnlichen Mord, sondern um Vatermord! Das macht Eindruck, und zwar in einem solchen Grad, daß sogar die Nichtigkeit und Unbewiesenheit der von der Anklage vorgebrachten Tatsachen nicht mehr so nichtig und unbewiesen erscheint – und das gilt selbst für den vorurteilsfreiesten Geist. Wie soll man einen solchen Angeklagten freisprechen? Wenn er nun den Mord wirklich begangen hat und straflos davonkommt? Das ist es, was jeder unwillkürlich und instinktiv in seinem Herzen fühlt. Ja, es ist etwas Furchtbares, das Blut des Vaters zu vergießen – das Blut dessen, der mich erzeugt, mich geliebt, sein Leben für mich nicht geschont hat, der seit meinen Kinderjahren meine Krankheiten wie die eigenen empfunden, sich die ganze Zeit um mein Glück gemüht und nur von meinen Freuden, von meinen Erfolgen gelebt hat! Oh, einen solchen Vater zu töten – unmöglich, das auch nur auszudenken! Meine Herren Geschworenen, was ist ein Vater, ein wirklicher Vater? Was ist das für ein großes Wort, welche gewaltige Idee liegt in dieser Bezeichnung? Wir haben soeben andeutungsweise gesagt, was und wie ein wahrer Vater sein muß. In dem vorliegenden Prozeß aber, der unser aller Interesse in Anspruch nimmt und unsere Seelen mit Schmerz erfüllt – in dem vorliegenden Prozeß hatte der Vater, der verstorbene Fjodor Pawlowitsch Karamasow, nicht die geringste Ähnlichkeit mit jener Vorstellung, die sich unser Herz von einem Vater macht. Das ist ein Unglück. In der Tat, mancher Vater hat Ähnlichkeit mit einem Unglück. Doch lassen Sie uns dieses Unglück näher betrachten – wir dürfen uns im Hinblick auf die Wichtigkeit der bevorstehenden Entscheidung vor nichts fürchten, meine Herren Geschworenen. Gerade jetzt dürfen wir uns nicht fürchten und gewisse Gedanken sozusagen mit den Händen abwehren, wie es nach dem glücklichen Ausdruck des hochbegabten Anklägers Kinder oder ängstliche Frauen tun. Aber in seiner feurigen Rede hat mein verehrter Gegner – und mein Gegner war er, bevor ich mein erstes Wort gesprochen hatte – mehrmals ausgerufen: ›Nein, ich überlasse es niemandem, den Angeklagten zu verteidigen! Ich trete seine Verteidigung dem Verteidiger aus Petersburg nicht ab – ich bin Ankläger, aber auch Verteidiger!‹ Das hat er mehrmals ausgerufen, und doch hat er eines vergessen zu erwähnen: Wenn der Angeklagte ganze dreiundzwanzig Jahre lang für ein einziges Pfund Nüsse dankbar war, das er von dem einzigen Menschen bekommen hatte, der ihm als kleinem Kind im Vaterhause eine Freundlichkeit erwies, dann mußte umgekehrt ein solcher Mensch es auch dreiundzwanzig Jahre im Gedächtnis behalten, wie er bei seinem Vater barfuß ›auf dem Hof hinter dem Haus herumlief, ohne Schuhchen und mit Höschen, die nur an einem Knopf hingen‹, wie sich der menschenfreundliche Doktor Herzenstube ausdrückte. Oh, meine Herren Geschworenen, wozu sollen wir dieses Unglück noch näher betrachten und wiederholen, was alle bereits wissen? Was fand mein Klient vor, als er hier bei seinem Vater ankam? Und warum stellt man sich meinen Klienten gefühllos, egoistisch, unmenschlich vor? Er ist ungestüm, wild und gewalttätig, daher müssen wir jetzt über ihn Gericht halten; doch wer ist schuld am Schicksal dieses Menschen, wer ist schuld daran, daß er bei guten Charakteranlagen und einem dankbaren Herzen so eine verkehrte Erziehung empfing? Hat ihn jemand etwas Vernünftiges gelehrt, ihn in den Wissenschaften unterwiesen? Hat ihn jemand in seiner Kindheit auch nur ein klein wenig geliebt? Mein Klient ist unter Gottes Schutz aufgewachsen, das heißt wie ein wildes Tier. Er hat sich vielleicht danach gesehnt, seinen Vater nach der langjährigen Trennung wiederzusehen; er hat vorher, wenn er sich wie durch einen Schleier an seine Kindheit erinnerte, vielleicht schon tausendmal die häßlichen Gespenster verjagt, von denen er in seiner Kindheit geträumt hatte; vielleicht wünschte er von ganzer Seele, seinen Vater gerechtfertigt zu finden und in seine Arme zu schließen! Und was geschieht? Dieser Vater
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