Die Brüder Karamasow
Taschen seines Mantels waren mit Steinen gefüllt. Aljoscha blieb in zwei Schritt Entfernung vor ihm stehen und sah ihn fragend an. Der Junge, der sogleich an Aljoschas Augen erkannte, daß dieser ihn nicht schlagen wollte, hatte keine Angst und begann von selbst: »Ich bin einer, und die sind sechs. Aber ich werde sie alle allein verprügeln!« sagte er plötzlich mit blitzenden Augen.
»Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben?« bemerkte Aljoscha.
»Aber ich habe Smurow am Kopf getroffen!« rief der Junge.
»Die anderen sagen, du kennst mich und hast aus irgendeinem Grund nach mir geworfen?« fragte Aljoscha.
Der Junge sah ihn finster an.
»Ich kenne dich nicht. Kennst du mich?« fragte Aljoscha weiter.
»Lassen Sie mich in Ruhe!« schrie der Junge gereizt, ohne sich vom Platz zu rühren. Er schien noch etwas zu erwarten, seine Augen funkelten wieder böse.
»Nun gut, ich gehe«, sagte Aljoscha. »Aber ich kenne dich nicht und will dich nicht ärgern. Die anderen haben mir gesagt, womit sie dich aufziehen. Ich will dich aber nicht aufziehen. Lebe wohl!«
»Mönch mit Tafthosen!« schrie der Junge und verfolgte Aljoscha mit demselben herausfordernden Blick. Zugleich stellte er sich in Positur, weil er damit rechnete, daß sich Aljoscha jetzt bestimmt auf ihn stürzen würde.
Doch Aljoscha wandte sich um, sah ihn nur an und ging weiter. Kaum hatte er aber drei Schritte getan, da traf ihn ein Stein schmerzhaft im Rücken; es war der größte, den der Junge in der Tasche gehabt hatte.
»Du wirfst von hinten? Da haben die anderen also recht, wenn sie sagen, daß du einen heimtückisch überfällst?« Mit diesen Worten drehte sich Aljoscha wieder um, doch der wütende Junge warf erneut nach Aljoscha, und zwar zielte er diesmal aufs Gesicht. Aljoscha konnte rechtzeitig parieren, so daß der Stein ihn nur am Ellbogen traf.
»Schämst du dich nicht? Was habe ich dir getan?« rief er.
Schweigend und verbissen erwartete der Junge nichts anderes, als daß sich Aljoscha jetzt auf ihn stürzte. Als dies aber auch jetzt nicht geschah, geriet er wie ein wildes Tier in Raserei. Er stürzte selber auf Aljoscha los, und ehe der sich rühren konnte, hatte der Junge den Kopf gesenkt, mit beiden Händen Aljoschas linke Hand gepackt und ihn schmerzhaft in den Mittelfinger gebissen. Er biß fest zu und ließ etwa zehn Sekunden nicht los. Aljoscha schrie vor Schmerz laut auf und versuchte mit aller Kraft die Hand wegzuziehen. Der Junge gab den Finger endlich frei und sprang zurück. Der Finger war schmerzhaft zerbissen, dicht am Nagel und bis auf den Knochen; er blutete stark. Aljoscha wickelte das Taschentuch fest um die verwundete Hand; womit er fast eine Minute zu tun hatte. Währenddessen stand der Junge da und wartete. Endlich schaute ihn Aljoscha ruhig an.
»So«, sagte er. »Du siehst, wie du mich gebissen hast, nun ist es wohl genug, nicht wahr? Sagst du mir jetzt, was ich dir getan habe?«
Der Bursche sah ihn verwundert an.
»Ich kenne dich zwar gar nicht und sehe dich zum erstenmal«, fuhr Aljoscha immer im gleichen ruhigen Ton fort, »aber ich muß dir doch etwas getan haben. Du würdest mir doch nicht grundlos solchen Schmerz zufügen. Was also habe ich dir getan, und womit habe ich mich gegen dich vergangen? Sag es mir, bitte!«
Statt zu antworten, fing der Junge an zu weinen und lief weg. Aljoscha folgte ihm langsam in die Michailowskajastraße und sah ihm noch lange nach. Der Junge lief weiter, ohne das Tempo zu mäßigen oder sich umzusehen, wahrscheinlich immer noch weinend. Aljoscha nahm sich vor, ihn so bald wie möglich zu besuchen und diesen rätselhaften Vorgang, der ihn sehr beeindruckt hatte, aufzuklären. Jetzt fehlte ihm die Zeit dazu.
4. Bei den Chochlakows
Schnell war er am Haus von Frau Chochlakowa angelangt. Es war ihr Eigentum, aus Stein gebaut, einstöckig und hübsch aussehend, eines der besten Häuser im Städtchen. Obgleich Frau Chochlakowa meist in einem anderen Gouvernement, wo sie ein Gut besaß, oder in ihrem Moskauer Haus lebte, gehörte ihr auch in unserem Städtchen ein Haus, das sie von ihren Vätern und Großvätern ererbt hatte. Das Gut, das sie in unserem Kreis besaß, war das größte von ihren drei Gütern; dennoch war sie bisher selten in unser Gouvernement gekommen.
Sie empfing Aljoscha bereits im Vorzimmer.
»Haben Sie meinen Brief über das neue Wunder erhalten. Haben Sie ihn erhalten?« begann sie hastig und aufgeregt.
»Ja, ich habe ihn
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