Die Brueder
Hausaufgaben nicht nur für seine Klassenkameraden, sondern auch für bedeutend ältere Kommilitonen und sogar für die Aufsicht führenden Prefects erledigt? Was diese eine Stunde gekostet hätte, habe er in fünf Minuten bewältigt. Nicht wahr? Habe ihm diese ungewollte Gabe etwa nicht die besten Finanzen aller Studenten in Eton, wo es strenge Regeln für die finanzielle Unterstützung von zu Hause gab, beschert? Könne man daraus nicht auch Schlüsse für die Zukunft ziehen?
Es gebe also folgende Möglichkeiten: entweder sich mit etwas, was man liebe, aber nicht beherrsche, in Albies Fall Poesie und Literatur, abmühen, oder sich auf etwas einlassen, wofür man sich bestens eigne, und es mit der Zeit lieben zu lernen.
Wieder folgte ein langes Schweigen. Sie erreichten den großen Bach. Das Frühjahrshochwasser hatte die Brücke mitgerissen, es war Zeit umzukehren.
Albie fühlte sich in der Logik gefangen. Sein Vater brauchte nicht einmal auszusprechen, dass ihm als einzigem Sohn eine besondere Verantwortung zufiel. Aber auch ungeachtet dieses Schattens, der ihm überallhin folgte, war er sachte und methodisch in eine Ecke gedrängt worden, aus der es kein Entkommen gab. Was er sich für sein Leben wünschte, war eine Sache. Die Logik gebot leider etwas ganz anderes.
»Nun gut«, sagte er. »Dann eben Maschinenbau.«
»Excellent«, antwortete sein Vater. »Ich glaube, das ist ein sehr kluger Entschluss, sowohl für die Familie als auch für dich selbst, vielleicht sogar für England. Nun also zur Frage, wo man Maschinenbau studieren kann. Cambridge hat, wie bekannt, einen sehr guten Ruf, was die Naturwissenschaften betrifft. Eine Rückkehr ans Trinity College würde jedoch kaum die von uns gewünschten Veränderungen herbeiführen.«
Das war eine gelinde, möglicherweise ironische Untertreibung. Albie hatte am Trinity College das Leben eines Bohemiens geführt, außerdem war er seiner ständigen Absenzen wegen gerade bis zum Semesterende relegiert worden. So gesehen fehlten ihm also jegliche Gegenargumente.
»Ich verstehe, Vater«, antwortete er resigniert. »Ich soll ein neues Leben außerhalb der Boheme beginnen. Also im Ausland?«
»Genau. Womit wir bei der interessanten Frage angelangt wären, wo im Ausland?«
»In Frankreich!«
»Ich habe schon befürchtet, dass du mir mit Frankreich kommen würdest …«
Der Hass seines Vaters auf Frankreich durfte keinesfalls mit der ausgeprägten Abscheu eines Daily Telegraph und anderer notorisch frankophober Londoner Zeitungen verwechselt werden, er sah die Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel. Frankreich leistete in Bezug auf Literatur, bildende Künste und in gewissem Maße auch auf moderne Musik Großartiges. Aber das Land war zuallererst Europas Bestie, war seit Ludwig XIV. und Napoleon blutrünstig und kriegerisch bis zur Besessenheit. Erst als sich Österreich, Preußen, England, sogar Schweden und in gewissem Maße der russische Winter mit vereinten Kräften der Bestie widersetzten, wurde sie gezähmt. Englands nächster Krieg würde zweifellos und unvermeidlich wie immer gegen Frankreich geführt werden. Aus gutem Grund waren Albie und seine Schwestern von deutschen statt von den französischen Gouvernanten, die manche Cousins leider immer noch vorzogen, erzogen worden, setzte der Vater seine lange Predigt fort.
Im Gegensatz zu Frankreich repräsentierte Deutschland Europas friedliche Morgenröte. Er wusste, wovon er sprach. Der Historiker Frederic William Maitland war in Eton sein Mitschüler gewesen, sie waren gleichaltrig und hatten beide das Trinity College besucht, er allerdings wie auch Albie aus Familientradition. Maitland hatten Stipendien und seine einzigartige Begabung zu einem Platz verholfen.
Sein Vater und Maitland hatten während der ersten Jahre im Trinity College nebeneinander gewohnt, zusammen gefeiert und … ja. Aber darüber hinaus hatten sie unendliche Diskussionen über die Zukunft Europas geführt.
Maitland hatte Deutschland immer als das Vorbild Europas dargestellt, allerdings auch als ein Land unpraktischer Träumer in Wolken blauen Tabakrauchs und schöner Musik. Wahrscheinlich waren die Deutschen das friedlichste Volk Europas, man musste sich nur die Geschichte der letzten fünfhundert Jahre ansehen. Dass Frankreich sie 1870/71 zu einer Auseinandersetzung gezwungen hatte, lag ganz einfach daran, dass die Franzosen sich wie immer weitere Territorien unter den Nagel reißen wollten und glaubten, Europas jüngster
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