Jede Sekunde zählt (German Edition)
Kapitel 1
Wieder eingewechselt
W ie es aussieht, werde ich wohl leben, vielleicht noch 50 Jahre oder sogar länger. Wann immer aber, wie es manchmal geschieht, ich mich selbst davon überzeugen muss, gehe ich hinaus an einen Ort, der hier Dead Man’s Hole genannt wird, und starre in die Tiefe. Dann, mit Entschlossenheit, ziehe ich mein Hemd aus und stürze mich geradewegs hinunter in etwas, das man mit dem »großen Vergessen« umschreiben könnte.
In gewisser Weise ist das meine ganz persönliche Methode, meine lebenswichtigen Funktionen zu checken. Dead Man’s Hole ist ein großes, grünes Mineralwasserbecken unterhalb einer runden Sandsteinklippe und liegt so tief im texanischen Hügelland, dass kaum jemand weiß, wie man dahin kommt. Je nachdem, welcher Legende man Glauben schenken will, haben hier während des Amerikanischen Bürgerkriegs Soldaten der Konföderierten Parteigänger der Nordstaaten über die Klippe gestoßen oder Apachen harmlosen Cowboys aufgelauert, die von dem Abgrund nichts ahnten. Wie auch immer, ich mag diesen Ort, und zwar so sehr, dass ich mir hier gut 80 Hektar Busch- und Weideland gekauft habe und schon so oft herausgefahren bin, dass ich eine regelrechte Staubpiste durch das Gestrüpp gebahnt habe. Mir scheint es nur richtig, dass ein Ort namens Dead Man’s Hole jemandemgehört, der um ein Haar gestorben wäre – und im Übrigen alles andere vorhat, als sein Leben tatenlos zu verbummeln.
Ich stehe direkt neben dem gut 15 Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfall und inspiziere die Klippe – und, wenn ich schon dabei bin, mich selbst. Es geht tief hinunter, so tief, dass ich allein schon von dem Anblick einen trockenen Gaumen bekomme. Tief genug, um sich auf dem Weg nach unten Gedanken machen zu können, und zwar mehr als einen Gedanken. Tief genug, einen ersten Gedanken zu denken, Ein wenig Angst tut dir gut, einen zweiten, Zum Glück kannst du schwimmen, und schließlich noch einen letzten, Scheiße, ist das kalt, wenn ich in das Wasser eintauche . Ich springe, und mehrere untrügliche Zeichen sagen mir, ich lebe: der Druck meines Pulses, das beharrliche Geräusch meines Atems, das Hämmern in meinem Brustkasten, mein Herz, das sich in diesem Moment anhört wie ein aufsässiger Gefangener, der nach Freiheit schreit und gegen das Gitter meiner Rippen trommelt.
Nach Luft schnappend komme ich wieder an die Oberfläche und schwimme zu den Felsen hinüber. Ich kletterte nach oben, trockne mich ab und fahre nach Hause zu meinen drei Kindern. Ich stürme durch die Tür, rufe nach meinem Sohn Luke und meinen Zwillingstöchtern Grace und Isabelle, küsse sie auf den Nacken, schnappe mir mit der einen Hand eine Flasche Shiner-Bockbier und mit der andern einen Arm voll Kinder.
Das erste Mal, als ich von der Klippe sprang, sah meine Frau Kik mich hinterher bloß an und verdrehte die Augen. Sie wusste, wo ich gewesen war und was ich getan hatte.
»Und, hat das für dich irgendetwas geklärt?«, fragte sie.
An welchem Punkt gibt man sich damit zufrieden, nicht zu sterben? Vielleicht habe ich das nie ganz getan, und vielleicht will ich das auch gar nicht.
Ich weiß, dass sie da draußen sind, in ihren verstellbaren Fernsehsesseln, mit diesen verdammten Infusionsständern, zusehen, wie die Chemo in ihre Venen träufelt und denken: Dieser Typ hatte dasselbe wie ich. Wenn er es gepackt hat, dann kann ich das auch. Ich denke die ganze Zeit an sie.
Mein Freund Lee Walker sagt, ich sei »wieder eingewechselt« worden. Er meint mit dieser seltsamen Formulierung, dass ich fast gestorben wäre, vielleicht sogar ein bisschen gestorben bin, dann aber im letzten Moment wieder eingewechselt wurde in die Welt der Lebenden. Diese Beschreibung trifft das, was mir passiert ist, so gut wie jede andere. Ich war 25, als der Krebs mich fast umgebracht hätte: Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, der sich in meinen Unterleib, in meine Lungen und mein Gehirn vorgefressen hatte, und es bedurfte zweier Operationen und vier Zyklen Chemotherapie, um ihn zu besiegen. Ich schrieb ein ganzes Buch über den Tod: Tour des Lebens. Das Buch handelt davon, mit der Möglichkeit des eigenen Todes konfrontiert zu werden, und davon, ihm im letzten Moment von der Schippe zu springen.
»Sind Sie sich sicher?«, fragte ich den Arzt.
»Ja. «
»Wie sicher?«
»Ganz sicher.«
»Warum sind Sie sich so sicher?«
»Ich bin mir so sicher, dass ich Sie morgen früh um 7.00 Uhr zur OP angemeldet habe.«
Auf einem
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