Die Brut
mehr oder weniger erreicht. Die
Sad Animals
hatten zwar nie die Charts gestürmt, aber in der Szene hatten sie am Schluss als coole Band gegolten.
»Ich muss in den Sender.«
»Ach. Die Sendung gestern war übrigens lustig.«
»Du hast geguckt?«
»Na klar doch.«
Tessa betrachtete ihren nackten großen Zehennagel. Sie musste sich das Band besorgen.
Aber ihre Schwester hatte nichts gesagt. Ihre Schwester hätte es ihr triumphierend unter die Nase geschmiert, wenn sie sich gestern in der Sendung versprochen hätte. Auf ihre Schwester war Verlass.
»Und der Versprecher war echt lustig«, sagte Feli.
Moses war in einem Weidenkörbchen an irgendein Ufer gespült worden, und barmherzige Leute hatten ihn bei sich aufgenommen. Tessa konnte sich nicht mehr erinnern, was diese barmherzigen Leute für einen Beruf ausübten. Wahrscheinlich waren sie Schreiner oder Schafhirten oder gingen sonst einer besinnlichen Tätigkeit nach. Sicher waren sie keine Fernsehmoderatorinnen, die mit ihrem Produzenten die Quoten des Vorabends besprechen mussten (300000 Zuschauer, regionaler Marktanteil von 9,7 Prozent, keine Sensation, aber gut). Tessa hatte Attila schließlich aus der Leitung geworfen, weil ein anderer Anrufer allzu hartnäckig anklopfte. Es war zum zweiten Mal Feli gewesen. Die ihr mitteilte, dass sie Curt soeben vor Tessas Haustür abgestellt hatte und jetzt im Taxi zu ihrem Vorsingen saß.
Tessa öffnete eins der Fenster, die zum Hof gingen. Da stand es. Eins dieser Plastikweidenkörbchen, in denen moderne Eltern ihre Kinder aussetzten. Tessa beugte sich weiter hinaus und lauschte. Nichts. Sie sah nur die gemusterte Decke, die sich in dem Körbchen bauschte. Wahrscheinlich schlief Curt. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Tessa ihn gesehen hatte, hatte er fast immer geschlafen.
Tessa schloss das Fenster, ging in ihr Arbeitszimmer und klappte den Laptop auf. Sie musste hart bleiben. Wenn sie jetzt nachgab, würde sich dieselbe Geschichte in spätestens drei Tagen wiederholen. Als der Laptop keinerlei Lebenszeichen von sich gab, fiel ihr wieder ein, dass er vorletzte Nacht abgestürzt war. Sie musste den Laden anrufen. Sofort. Sie konnte nicht das ganze Wochenende ohne Laptop sein.
Ob Feli wenigstens daran gedacht hatte, den Kleinen vorher noch zu füttern? Tessa hatte keine Ahnung, was ein Kind in diesem Alter zu essen bekam. Noch Milch? Ob Feli Curt an die Brust legte? Bei dem Gedanken, ihre Schwester könnte nährende Mutter Natur spielen, musste Tessa lachen.
Der Mann im Computergeschäft erkannte ihre Stimme sofort. Er entschuldigte sich in jeder Hinsicht –
mein Gott, ich hoffe, Sie hatten keine allzu großen Umstände, aber Ihre Sendung gestern war ganz toll
– und versprach, Tessa heute noch einen Ersatzcomputer vorbeibringen zu lassen. Zufrieden beendete sie das Gespräch.
Ihr Arbeitszimmer ging zu den stillgelegten Gütergleisen hinaus. Wenn Curt im Hof zu weinen begonnen hatte, würde sie es hier unmöglich hören. Also ging sie ins untere Stockwerk und öffnete das Fenster. Der blaue Plastikkorb stand noch immer da. Sie lauschte und hörte nichts. Es regte sich auch nichts. Was, wenn Curt schon gar nicht mehr im Korb lag? Unsinn. Er konnte noch nicht krabbeln. Und niemand würde das Kind ohne den Korb mitnehmen. War sie schuld, wenn Curt verschwand? Kein Gericht in diesem Land würde sie schuldig sprechen können. Ihre Schwester hatte sie erpresst.
Mit dem Fahrstuhl fuhr Tessa ins Erdgeschoss. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert war oder wütend, als sie Curt im Körbchen liegen sah. Dass er sie anlächelte, machte sie in jedem Fall wütend. Lag da und lächelte sie an. So als ob sie irgendetwas mit ihm zu tun hätte. Gut, sie war seine Tante. Ein Gedanke, der ihr in diesem Augenblick zum ersten Mal kam. Ich Tante. Du Neffe. Was für eine Absurdität. Ihr Neffe war derselbe gottverdammte Sonnenschein wie seine Mutter. Es war klar, auch er glaubte, sich seinen Weg durch die Welt lächeln zu können. Tessa schaute sich um. In dem ehemaligen Fabrikhof war niemand zu sehen. Das Kind lag unter einer Decke, es regnete nicht, das Kind lächelte. Ebenso gut konnte es bleiben, wo es war.
Der Fahrstuhl war bereits am zweiten Stock vorbeigefahren, als Tessa der Gedanke kam, dass es genug Boulevardzeitungen gab, die Feli die Geschichte von der kaltherzigen Schwestertante abkaufen würden.
»Na, so was«, rief Sebastian, als er am frühen Nachmittag von seinem Termin beim Chiropraktiker zurückkam. Tessa
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