Die Delegation
Wenn die Dinge so liegen, wie es scheint, dann wird es die Reportage meines Lebens. Irgendwann muß man eben über Leichen gehen!
17. Oktober
Hanniek ist abgereist, bei Nacht und Nebel. Kamera und das ganze Material habe ich vorher in Sicherheit gebracht. Mr. Clayton schickt einen Ersatzmann. Er will die Reportage kaufen für seinen privaten Sender in Miami. Hängt natürlich noch vom Ergebnis ab. Bin aber optimistisch – bin ganz sicher! Werde es von Tag zu Tag mehr! Es wird etwas geschehen.
Etwas geschieht; ich werde es herbeizwingen! Ich warte und hoffe.
Roczinski wartet also und hofft.
Wann war der Umschwung geschehen, das alles verändernde Urerlebnis? Wann hatte er seine Vision gehabt, die aus dem Saulus einen Paulus machte? Wann hatte er seine Skepsis begraben?
Wir suchten immer noch eine Antwort auf diese Fragen. Im Tagebuch war nichts darüber zu finden.
Irgendwann müssen sich zu seinen zweifelnden Fragen vage Antworten, Überlegungen, Spekulationen gebildet haben. Das kann nicht von einem Tag, von einer Stunde zur anderen geschehen sein. Eine langsame Entwicklung muß stattgefunden haben. Und sie hat vielleicht nur Dinge freigelegt, die schon lange in seinem Innersten vorhanden, wenn auch tief verborgen waren: Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte. Ein religiöses Urgefühl. Der Wunsch nach Geborgenheit im All und gleichzeitig die Überheblichkeit des Auserwähltseins. Demut und Größenwahn.
Etwas geschieht; ich werde es herbeizwingen! Ich warte und hoffe.
Der neue Kameramann, den ihm die private Fernsehgesellschaft in Miami vermittelt hat, trifft ein, ein Amerikaner irischer Abstammung: Mike Callaghean. Er ist Mitte Zwanzig, sehr groß, bärtig, eine Gestalt aus dem Alten Testament. Vor seiner Fernsehtätigkeit in Miami war er in New York als Underground-Filmer tätig. Zwei Monate sogar in Andy Warhols Factory. Dort hat er tagelang in einem absolut dunklen Raum Rohfilm zusammengeklebt: Resteverwertung, um Geld zu sparen.
Der war nun kein Skeptiker, kein Zweifler, kein Ignorant wie der festangestellte Gerd Hanniek.
Es muß Roczinski sehr schnell gelungen sein, den neuen Mann zu überzeugen. Der arbeitete ohne Geld für ihn, sozusagen auf Erfolgsbasis, denn Roczinski besaß nichts mehr außer den Kreditkarten, die auf die Redaktion in Washington ausgestellt waren.
Und diese Kreditkarten wurden nicht überall akzeptiert. Außerdem waren sie bereits gesperrt.
Gerd Hanniek war inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt und hatte beim Sender ausgepackt. Als bekannt wurde, daß Roczinski versuchte, das Material, das er doch gewissermaßen immer noch im Auftrag des aktuellen forums drehte, an diese Privatgesellschaft in Miami zu verkaufen, kündigte man ihm fristlos zum 31. Oktober.
Man telegrafierte ihm das. Aber Roczinski stellte sich tot. Inzwischen war bereits der 20. Oktober.
Roczinski saß in Florida und wartete auf die Dreherlaubnis für Kap Kennedy. Vergebens flog er nach Houston/Texas und nach Huntsville/Alabama, um die Prominenz der NASA, die ›Weltraumbezwinger‹ der USA, vor seine Kamera zu bringen. Die Herren hatten andere Sorgen. Und außerdem aus Washington einen Tip bekommen. Roczinski war von der Liste der seriösen Reporter gestrichen worden. Man überwachte ihn. Er hatte zuviel erzählt, zuviel gefragt, zuviel vermutet.
An diesem 20. Oktober schrieb er in sein Tagebuch:
Habe offenbar gegen eine dieser kleingedruckten Spielregeln auf der Rückseite meines Vertrages verstoßen. Kündigung lautet zum 31.10. Na, wenn schon.
Solange die hier meine Kreditkarten akzeptieren, verhungern wir nicht – und suchen weiter nach der Wahrheit.
ENTWEDER VEREHREN WIR SIE WIE GÖTTER…
Tägliche Meditation mit der Pyramide auf der Stirn. Aber ich fürchte, die sendet auch meine Hintergedanken:… ODER WIR BRINGEN SIE UM!
Ich erwarte ein Zeichen dieser ›Götter‹, wie ein Mönch, ein Büßender, ein Betender. Ein Zeichen! – Eine Botschaft!
Aber auch diese Götter schweigen!
49
Rolle sechs: Der Gekreuzigte.
Ein kleines Stück gekalkte Mauer ist für ihn ausgespart. Eine weiße Insel inmitten unendlicher Bücherwände. Darüber ein neugotisches Deckengewölbe, düstere Holzvertäfelung, Gobelins, alte Stiche.
Der Blick geht durch enge, hohe Fenster, durch bleiverglaste Scheiben über einen Hof: Sandsteinfassaden in übelster Tudor-Kopie, Arkaden, Bogengänge, eine modernistische Plastik, ein Mobile dreht sich im Wind, dahinter Erker und Türmchen:
DAS
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