Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
1
Die Spelunke am Viktoriapark machte um neunzehn Uhr dicht.
Vincent fragte die Kellnerin, ob sie Familie habe, auf die sie sich freue. Die
Kellnerin verneinte, aber man komme in ihrem Beruf selten genug zu einem
ungestörten Fernsehabend.
Es hätte Lokale gegeben, wenigstens ein paar türkische Kneipen,
denen Weihnachten vollkommen egal war. Vincent spürte aber wenig Lust, sich zu
betrinken. Später am Abend konnten sich noch Kundinnen melden, das war an
Weihnachten gar nichts Ungewöhnliches, meist zeigten die sich dann über die
Maßen spendabel.
Die Aussicht, auf irgendeiner Sammelstelle für melancholische
Einzelgänger hinzudämmern, seine Einsamkeit zur Schau zu stellen, widerte
Vincent an, und er überquerte die Straße, mit hochgeschlagenem Mantelkragen.
Schneeregen fiel; im Standlicht eines Autos wirkten die Flocken wie Schwärme
winziger Vögel, leuchteten auf, bevor sie am Boden zerschmolzen. Das
Treppenhaus roch muffig. Vincent nahm drei Stufen auf einmal.
Die Tür zu seiner Wohnung war nicht abgesperrt, er litt unter der
Phobie, seine Schlüssel zu verlieren, wenn er nachts durchs Viertel zog. Das
Risiko eines Einbruchs schien ihm deswegen nicht höher, im Gegenteil. Offene
Türen und in der Diele brennendes Licht, glaubte er, würden Diebe verunsichern.
Vincent hängte den feuchten Mantel über die Heizung, zog sich komplett aus und
ließ heißes Wasser in die Wanne. Aus dem Radio dudelte Musik in den Flur. It
was a very good year . Vincent runzelte die Stirn, ging ins Schlafzimmer und stellte
die Anlage ab, obwohl er Sinatra-Schnulzen mochte. Er tunkte einen Finger in
die halb vollgelaufene Wanne. Das Wasser war noch zu heiß. Zeit für eine
Zigarette, am Küchentisch, mit Blick hinaus auf den Schnee, darin, im grauen
Gewusel, die Spiegelung seines muskulösen, gut trainierten Oberkörpers. So gut
war das Jahr nicht gewesen, nein.
Vincent suchte Zigaretten, fand nirgends welche, nicht einmal in den
Innentaschen seiner beiden Sakkos, wo er sonst fast immer fündig geworden war,
und er wurde wütend bei dem Gedanken, sich erneut anziehen und welche am
Automaten holen zu müssen. Warum ist es nur so schwer, fragte er sich, mal ein
paar Stangen auf Vorrat zu kaufen? Und warum eigentlich spielt der
Klassiksender an Weihnachten einen Sinatra-Song?
Er fühlte sich plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, unwohl
in seiner Nacktheit, ohne Gründe dafür nennen zu können. Die Heizung lief auf
höchster Stufe, die Rolläden waren sämtlich herabgelassen, jetzt auch der in
der Küche. Er ging ins Bad, prüfte erneut die Temperatur des Wassers. Irgend
etwas hielt ihn davon ab, in die Wanne zu steigen. Ihm war, als würde sich, im
unteren linken Eck seines Sichtfelds, etwas gerührt haben, eine ganz winzige
Bewegung, wie der Hauch eines Schattens, der über eine nur etwas weniger dunkle
Fläche hinweghuscht. Vincent drehte sich um, trat auf den halbdunklen Flur, sah
nach links, zur Wohnungstür, sah nach rechts – und etwas prallte mit ihm
zusammen, wollte an ihm vorbei, stieß ihn mit zwei Fäusten zu Boden. Aus einem
Reflex heraus griff er zu, bekam Haare zu fassen, spürte, wie das Mädchen
zutrat und um sich schlug. Er krallte sich an ihr fest, brachte sie zum
Stolpern, keine Sekunde später lag er auf ihr.
Sie war nicht allzu kräftig. Ein Mädchen um die neunzehn, zwanzig,
vielleicht jünger, in Jeans und Baseballjacke.
Er hielt ihre Handgelenke fest, sie wandte das Gesicht von ihm ab,
sagte nichts, schrie nicht, selbst das Zerren und Treten gab sie auf und lag
bald wie ohnmächtig unter ihm. Strähniges, vermutlich dunkelblondes Haar.
Allzuviel war in dem Licht, das aus Küche und Bad in den Flur drang, nicht zu
erkennen. Vincent hätte sie gern losgelassen, aber jetzt erst, viel zu spät,
bekam er Angst. Was, wenn sie bewaffnet war? Fixerin vielleicht, auf Turkey,
vom Entzug jeder Hemmung beraubt – oder eins der Biester von den Straßengangs,
die im Hinterhof mit Schmetterlingsmessern herumspielten – nun zitterte ihr
Kopf, das Zittern lief durch ihren schlanken Hals und setzte sich in den
Schultern fort. Leises Schluchzen war zu hören.
Trotz der Umstände kam sich Vincent brutal vor, so nackt und schwer
auf ihr zu liegen. Und was, wenn sie – man mußte an vieles denken – besonders
durchtrieben war und begann, um Hilfe zu schreien, sie werde vergewaltigt?
Die Situation gefiel ihm weniger und weniger, er überlegte, die
Einbrecherin laufen zu lassen, sie einfach loszulassen und
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