Die Dichterin von Aquitanien
mehr hatte, war ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen. Sie störte sich nicht daran, denn es war ihr wichtiger aufregende Geschichten lesen zu können als geschützte, trockene Füße zu haben.
Marie wusch sich mit den letzten Stück Seife, das noch übrig war, zog sich das wollene Gewand über ihr schon hundertfach geflicktes Leinenhemd und band den Gürtel fest. Rasch fuhr sie sich noch mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Es war braun und matt wie das Fell der Straßenhunde im Dorf, aber widerspenstig gelockt. Ihr Gesicht hatte Marie bisher nur selten sehen können. Manchmal schwamm es verzerrt auf der Oberfläche des Teiches am Dorfrand. Aber auch ohne ihr eigenes Aussehen genau zu kennen, wusste Marie, dass sie kein Mädchen war, dessen Anblick Männern den Kopf verdrehte. Bei den Tänzen auf dem Marktplatz wurde sie kaum beachtet. Nur durch Witz und Einfallsreichtum konnte sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie sah das als Ansporn, an diesen Eigenschaften weiter zu feilen, sie zur Vollkommenheit reifen zu lassen.
Cleopatra krächzte erfreut, als Marie die Tür zum großen Raum aufschob, und streckte die Flügel aus, um ein paar Runden zu drehen. Der Hund lief ihr entgegen, schnappte nach dem Stoff ihres Gewands und zerrte daran. Ungeduldig schob sie ihn zurück, doch er biss sich beharrlich an ihr fest, zappelte und stieß weiter Klagelaute aus. Die Ahnung von etwas Bösem stieg in Marie hoch, denn aus Abélards Verhalten sprach keine Vorfreude auf eine dicke Scheibe Speck. Er sprang nun aufgebracht herum, bellte und begann, an der Ausgangstür zu kratzen. Angespannt stieß sie diese auf und stellte sich der eisigen Morgenluft, die ihr entgegenblies. Der Hund schoss nach draußen. Bald schon war sein Bellen quälend laut geworden. Marie wurde erst jetzt bewusst, dass sie nirgendwo im großen Raum Guillaumes schlafende Gestalt entdeckt hatte. Er musste es trotz mehrerer Becher Weins noch in seine Kammer geschafft haben.
Sie trat ins Freie. Regen prasselte so heftig auf sie nieder, dass ihr wollenes Gewand sogleich schwer und feucht zu werden begann. Sie rieb sich die Augen und machte schnell das Zeichen des Kreuzes, um sich vor dem Bösen zu schützen, dessen Nähe sie ahnte. Der Wald ruhte dunkel im Regenschauer, und kein verdächtiges Leben regte sich in ihm. Immer verzweifelter bellte Abélard nun, Marie zwang sich, in seine Richtung zu blicken.
Zunächst sah sie nur die Leiter an der Hauswand lehnen. Guillaume musste sie noch in der vergangenen Nacht dorthin gebracht haben. Aber warum in Gottes Namen wollte er im Dunkeln das Dach richten? Und wo war er jetzt?
Sie entdeckte ihn ein Stück neben der Leiter. Er lag völlig still, und auch als sie an ihm zu zerren begann, regte er sich nicht. Verzweifelt schrie Marie seinen Namen, doch er reagierte nicht. Als sie ihn packen wollte, um ihn ins Haus zu ziehen, sah sie das Rot auf dem Stein neben seinem Kopf.
Mit zitternden Händen strich sie über seine Wangen und entdeckte die Wunde. Guillaumes rechte Schläfe war ein brauner Fleck aus verkrustetem Blut und nasser Erde. Nochmals sah sie sich ängstlich nach einem Angreifer um. Die Zusammenhänge wollten nicht so recht in ihr Bewusstsein dringen. Erst als ihr langsam klar wurde, dass der Ziehvater nicht niedergeschlagen worden war, sondern bei dem Versuch, die Leiter zu erklimmen, gestürzt und auf den Stein gefallen sein musste, setzten ihre Füße sich in Bewegung. Sie schienen kein Teil ihres Körpers mehr zu sein, sondern bewegten sich eigenständig, trugen sie ins Dorf hinein. Vielleicht fühlte ein Werwolf sich derart betäubt, wenn er zu einem Wesen wurde, das fremden Regeln folgte. Abélards treues Hecheln an ihrer Seite war der einzige Trost in diesem Albtraum, aus dem sie einfach nicht erwachen konnte.
2. Kapitel
M arie, es ist nicht deine Schuld«, murmelte Pierre sanft und drückte ihre Hand. Marie presste die Zähne zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass sie weiter lautstark klapperten. Ihr ganzer Körper bebte, als leide sie an einem starken Fieber. Zu sprechen wagte sie nicht, denn sie fürchtete, kein verständliches Wort herauszubringen.
»Nimm einen Schluck Wasser, Marie«, flüsterte der Junge und blickte sich im großen Raum der ausgebesserten Ruine um.
Aus Guillaumes Kammer drang Stimmengewirr. Der Pfarrer befand sich dort, gemeinsam mit einem heilkundigen Mönch, den er aus dem nächsten Kloster hatte kommen lassen. Marie versuchte verzweifelt, Ruhe zu finden.
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