Die Dirne vom Niederrhein
mir recht. Sie würde sich nicht einmal wehren, sich nicht verstecken, nicht davonlaufen. Dann müsste sie nicht den Mut finden, durch ihre eigene Hand zu sterben.
Das Knurren ihres Bauches erinnerte sie daran, warum sie diesen Weg angetreten war. Sie wollte nach Neuß, dieser vormals wohlhabenden Stadt, deren Mauern vor langer Zeit ein Jahr der Belagerung standgehalten hatten. Zumindest hatte das Vater immer erzählt. Deshalb hatte man der Stadt erlaubt, den Reichsadler in ihrem Wappen zu führen und Münzen zu prägen. Dieser Ruhm war verblasst und die Schönheit dahin. Genau wie bei ihr. Waren wirklich nur ein paar Monate vergangen, seit junge Männer am ganzen Niederrhein sie umworben hatten? Jeden hätte sie sich aussuchen können. Ihre Familie war reich gewesen, angesehen, und mit einem Augenaufschlag hatte Elisabeth immer bekommen, was sie gewollt hatte.
Heute war ihre prachtvolle blonde Mähne lediglich noch gelbes Stroh, ihre glühenden Wangen waren matt und ihr Blick glich dem einer Kranken auf dem Sterbebett.
Elisabeth überlegte, ob das alles nicht ein Traum gewesen war, der es für einen kurzen Moment ins Hier und Jetzt geschafft hatte. Nichts war ihr mehr aus dieser Zeit geblieben. Vielleicht war dies der Grund, warum ihre Beine sie in die Stadt schleppten. Sie besaß keine Reichstaler mehr und nannte lediglich wenige Groschen ihr Eigen. Sollte sie sich nichts mehr zu essen kaufen können, würde sie sich in eine Scheune legen und sterben. Einfach so.
*
Die Schnitte in seinen Armen schmerzten, als würde die Glut, in der er früher Schwerter geschmiedet hatte, durch seine Adern laufen. Es waren einige Wochen vergangen, seit Maximilian die Stadt Kempen und damit seine Familie verlassen hatte. Dieser Moment, dieser eine Moment, in dem sein Säbel das Fleisch seines Bruders durchdrungen hatte und die Kraft aus Lorenz’ Blick gewichen war, spielte sich wie ein immerwährendes Theaterstück vor seinem inneren Auge ab. Obwohl Kempen nicht allzu weit hinter ihm lag, kam ihm sein altes Leben wie eine Einbildung vor. Zu unwirklich waren die Erinnerungen an seine Eltern, seine Geschwister, ja sein ganzes Leben, zu schemenhaft formte sich das Antlitz von Lorenz in seinem Geist. Bald zweifelte er daran, dass Lorenz wirklich ausgesehen hatte, wie er ihn in Erinnerung hatte. Die Zeit spielte seinem Gedächtnis einen Streich.
Auf einem Feldweg bei Viersen verließ Maximilian die Kraft. Mitten auf dem aufgeweichten Boden ließ er sich fallen und wünschte sich nichts sehnlicher, als tot zu sein. Auf die Knie gestützt, nahm er die vom Blut rot gemalten Leinenverbände ab. Die Schnitte, die er sich zugefügt hatte, waren tief, bereits einige Wochen alt – er wollte sie nicht verheilen lassen. Der Versuch, sich selbst zu richten, war ihm misslungen. Wie eine stumme Erinnerung an seinen Bruder wollte er die Schnitte so präsent wie möglich halten.
Mit dem Fingernagel fuhr er sich durch die Wunden an seinen Handgelenken und Unterarmen. Maximilian wollte nicht mehr leben. Er wollte Lorenz wiedersehen, wollte seinem Bruder sagen, wie leid es ihm tat, dass er alles dafür geben würde, um die Tat im Wald bei Kempen ungeschehen zu machen. Sein Körper tat ihm diesen Gefallen nicht. Egal wie oft er sich abends auf den kalten Waldboden legte, er wachte jeden Morgen auf, und der Tag begrüßte ihn mit wärmenden Sonnenstrahlen.
Maximilian schüttelte den Kopf und sein langes Haar fiel ihm wie ein Schleier über die Augen. Lorenz war sein kleiner Bruder gewesen, er hatte die Verantwortung für ihn gehabt, er hätte auf ihn aufpassen müssen – stattdessen war Lorenz durch seine Hand gestorben. Und das nur, weil Lorenz seine geliebte Antonella hatte retten wollen. Die Erinnerung an vergangene Tage kroch in Maximilian hoch. Wie sein jüngerer Bruder versucht hatte, seine Geliebte vom Scheiterhaufen zu befreien, wie Maximilian ihn davon abhalten wollte und sich die Klinge wie von Seilen gezogen in den Körper des Bruders bohrte.
Maximilian hatte sie alle enttäuscht: seine Eltern, seine Geschwister und sich am meisten. Er hätte Lorenz helfen müssen, sich gegen die Übermacht zu stemmen, auch wenn die Lage aussichtslos schien. Stattdessen war sein Bruder in seinen Armen verblutet, während Antonella in den Flammen qualvoll verbrannt war. Er schloss die Augen. Es kam ihm wie ein nicht enden wollender Albtraum vor, aus dem er nicht aufwachen konnte.
Lautes Gebrüll riss ihn aus seinen Gedanken. Kurz blickte er sich um
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