Die Dirne vom Niederrhein
Kapitel 1
- Unendlich schwere Lasten -
Neuß am Niederrhein, 02. April 1642
Ihre Schritte waren schwer, ihr Blick zu Boden gerichtet. Ihr Körper war umhüllt von dicken Leinentüchern, die Last der letzten Tage schien jeglichen Lebenswillen aus ihrem Leib getrieben zu haben. Blonde Strähnen wippten mit jedem ihrer Schritte mit. Die Kapuze hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen. Niemand sollte die Schmach sehen, die sich in ihren blauen Augen offenbarte. Sie hatte nichts anderes verdient als den Tod, dessen war sie sich sicher.
Ihre einsame Gestalt verlor sich zwischen tiefen Wäldern und großen Wiesen. Der Himmel schien ihr Befinden widerspiegeln zu wollen. Tiefhängende Wolken zogen sich zu einer grauen Wand zusammen und donnerten ihr dunkles Lied in den Abend hinein.
Elisabeth blickte nach oben.
In düsteren Farben zeichnete sich das vergangene Unheil ab, als hätte der Teufel selbst das Bild gemalt. Unzählige Male hatte sie in den vergangenen Wochen gen Himmel gestarrt, stundenlang die Wolken beobachtet und gehofft, etwas zu finden. Ein Zeichen, eine Geste, die ihr diese unendlich schwere Last von den Schultern nehmen würde. Wie immer entdeckte sie nichts. Wie sollte sie auch? Nicht einmal der Allmächtige konnte diese Sünde ungeschehen machen.
»Bitte, verzeih mir«, hauchte Elisabeth in die finsteren Abendstunden.
Tief im Inneren hoffte sie, dass ihre Schwester sie hörte. Sie würde Elisabeth ihre Antwort schuldig bleiben. Zumindest bis zu dem Tage, an dem sie sich wiedersehen würden. Für Elisabeth war die Hölle bestimmt, da gab es für sie keinen Zweifel. Qualen für alle Ewigkeiten. Vielleicht, wenn der Herrgott Erbarmen hatte, dürfte sie ihrer Schwester für einen Moment noch einmal begegnen. Lediglich für einen kurzen Augenblick, damit Antonella ihr eine Antwort geben konnte. Vielleicht war sie jetzt glücklich mit ihrem Lorenz vereint. In den letzten Lebenstagen hatte sie viel ertragen müssen, es wäre nur gerecht, wenn die Hölle auf Erden über Elisabeth hereinbrechen würde und Antonella die Ewigkeit in den Armen ihres Geliebten verbringen dürfte.
Erste Regentropfen benetzten ihre Haut und erinnerten sie daran, dass sie noch lebte. Zumindest ihr Körper. Das Licht ihres Geistes, vormals lebensfroh und voller Kraft, schien erloschen. Wie sollte es weiterbrennen, nach dem, was sie getan hatte?
Verrat – die schlimmste aller Sünden. Und das an dem einzigen Menschen auf Erden, der sie verstanden hatte. Elisabeth hatte alles verloren. Ihren Vater durch die plündernden Hessen und die Machenschaften seines Sekretärs, ihr bisheriges Leben durch den Krieg und ihre Schwester durch ihre eigenen Worte.
Sie schloss ihre Augenlider. Plötzlich nahm der Regen an Intensität zu und vermischte sich mit ihren Tränen.
Wie hatte sie ihre Schwester als Hexe bezeichnen können? Ihrer verblendeten Eitelkeit wegen hatte sie Antonella in den grausamen Flammentod geschickt.
Ein weiteres Mal donnerte es. Diesmal kamen die Geräusche nicht vom Himmel, sondern aus einem kleinen Dörfchen in ihrem Rücken. Die Geschosse der französischen Artillerie rückten immer näher. Dort musste Kempen liegen. Die Stadt, in der sie wie eine Prinzessin gelebt hatte. Mittlerweile lag ihre Heimat in Trümmern. Von überall her drangen Menschen in dieses kleine Fleckchen Erde und machten es zu einem Ort der Gewalt. Nach der Niederlage bei Crefeld hatten sich die kaiserlichen Truppen allerorts verstreut und nahmen sich, was sie kriegen konnten. Ihr Heerführer, General de Lamboy, befand sich in französischer Hand und seine Streitmacht wütete beinahe noch schlimmer als die siegreichen Hessen und Franzosen. Wie Hühner, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte, irrten die Soldaten voller Panik durch die Länder.
Die Gefahr war jedoch noch lange nicht vorüber. Der Sieger bestimmt die Regeln, hatte Elisabeths Vater einmal gesagt. Damals war sie zu klein, um seine Worte zu verstehen, nun ergab alles einen Sinn. Die Hessen unter Eberstein und die Franzosen unter Marschall Guébriant machten ihre eigenen Gesetze. Die Männer mussten sich ernähren, viele Männer. Jedes Dorf, das nicht freiwillig alles gab, was es besaß, wurde mit Waffengewalt dazu gezwungen. Sie raubten Essen und Vieh und vergewaltigten die Frauen. Elisabeth hatte es aus der Ferne beobachtet. Die Brutalität hätte sie früher hochschrecken lassen, aber jetzt, da sie nicht mehr leben wollte, war es ihr egal.
Sollen sie mich töten, dachte sie. Es wäre
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