Die dunkle Muse
Ihr
Busen wogte verheißungsvoll im Unterhemd. Nach einer halben Stunde, als die Wege
sich allmählich leerten, machte sie kehrt und bummelte zurück zum Park. Nicht mehr
lange, und lichtscheues Gesindel würde sich dort einfinden.
Die Nacht
war mild. Ein angenehm warmes Lüftchen kräuselte die Spree. Auf dem Gehweg kam ihr
ein untersetzter Mann mit breitem Brustkorb entgegen. Sie hob spielerisch den Rock,
bis er ihre Knie entblößte, und ließ ihn wieder fallen. Der Fremde schien Interesse
zu bekunden, denn er verlangsamte die Schritte. Lene trat aus dem Lichtkegel und
zog sich zu einem dichten Ligusterstrauch zurück.
Der Mann
folgte ihr.
»Wie viel?«,
flüsterte er. Als er sprach, stieg ihr seine Alkoholfahne in die Nase.
»Fünf Silbergroschen.«
»Das ist
billig«, bemerkte er überrascht.
»Es gibt
auch nicht das volle Programm.«
»Große Wäsche,
was?« Er brummte missmutig. Nichtsdestoweniger besah er sich ihr Gesicht genauer,
während er eine Hand in ihren Ausschnitt gleiten ließ. »Eine prächtige Auslade haste
ja«, meinte er, als er ihr warmes Fleisch knetete. »Na, wir wollen ma nich so sein.
Hier haste was.«
Sie steckte
die Münzen ein, nahm den Kunden bei der Hand und führte ihn durchs Gebüsch an die
Vorderfassade der Akademie. Verhaltenes Stöhnen in der Nähe zeigte an, dass dort
noch mehr Paare miteinander beschäftigt waren. Lene Kulm hielt auf eines der Fenster
zu, von dem sie wusste, dass es abends mit Eisenjalousien verschlossen war, und
setzte sich aufs Fensterbrett. Behände ließ sie die Träger ihres Kleides von den
Schultern gleiten, damit die plumpen Arbeiterhände des Freiers ihre Brüste betasten
konnten.
Sie nestelte
an seiner Hose herum, einer Schreinerhose aus verschlissenem Stoff, und öffnete
den Latz. Ihre Handgriffe waren fest, zupackend und von liebloser Mechanik. Der
Arbeiter seufzte leise, als er sich nach wenigen Augenblicken über ihre Finger ergoss.
Brüsk schob er die Dirne von sich und knöpfte sein Gewand zu. Lene wischte die Hand
am Rasen ab und folgte dem Freier, der schon wieder den Gehsteig erreicht und grußlos
seinen Heimweg angetreten hatte.
Sie nahm
sich fest vor, an diesem Abend noch mindestens zwei weitere Kunden zu bedienen,
und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie ihr Soll erfüllt hatte. Zufrieden
spürte sie das Gewicht der Münzen, die sie am Körper trug, als sie ihre Schritte
zur Marienburger Straße lenkte. Vor dem Eingang einer mehrgeschossigen Mietskaserne
blieb Lene schließlich stehen. Sie schloss die Tür auf und betrat das düstere Treppenhaus.
Lediglich durch die Dachfenster im obersten Stock drang ein fahler Lichtschein herein.
Die spärlichen Gaslaternen funktionierten ohnehin nie.
Der Dirne
gefiel es, eine Unterkunft in einem Gebäude gefunden zu haben, dessen Fassade reich
mit Stuck verziert war. Zwar wohnten sie und ihr Freund nicht im Vorderhaus, sondern
hatten sich in einer Mansarde im Seitenflügel eingemietet, aber der äußere Schein
war es, der für Lene zählte. Unter solchen Gedanken bog sie im Flur in das Durchgangszimmer
ab, das zu den allgemein zugänglichen Stuben des Seitenflügels führte. Von dort
überquerte sie einen Innenhof, ging an der Remise vorbei, aus der das Wiehern von
Pferden drang, und betrat das Hinterhaus.
Lene überlegte,
wie viele Mieter wohl in diesem Moment gerade miteinander schliefen. Es konnten
einige sein. Der Gebäudekomplex war groß und verschachtelt, die Wohnungen beengt
und überfüllt. Dennoch war hier die Situation noch relativ erträglich. Eine Arbeitskollegin
aus dem Schlachthof wohnte nur ein paar Straßen weiter, und dort hausten die Leute
sogar auf den Fluren. Wohnungsnot macht erfinderisch. So manch einer vermietete
Matratzen. Beinah im Schichtbetrieb teilte man sich die Schlafstellen.
Im Dachgeschoss
angekommen, öffnete Lene Kulm die Tür zu einem separaten Wohnabteil. Am Boden lag
eine abgescheuerte Fußmatte. An einer Gardinenschnur, die durch die Wand zu einer
Glocke führte, hing ein Rehfuß. Geradeaus endete der kleine Flur bei einem Lichtschacht.
An Seilen baumelten Papiertüten von der Decke, in denen sie getrocknete Kräuter
aufbewahrte. Zu beiden Seiten führten Türen zu den Mansarden. Die rechte Wohnung
bewohnte sie mit ihrem Freund Gregor; den Mieter der anderen, einen feisten, rotbärtigen
Mann, der viel zu elegant gekleidet war für dieses Milieu, sah sie nur sporadisch.
»Was der
wohl hier zu suchen hat?«, hatte Lenes Freund sie vor ein paar
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