Die dunkle Muse
Zifferblatt.
»Wie spät?«,
fragte Horlitz.
»4 Uhr 15.«
»Dann werden
die ersten Mieter bald aufstehen. Das wird mir ein Theater geben, wenn die merken,
dass die Polizei im Haus ist. Kommen Sie, Bentheim.«
Der ehemalige
preußische Soldat bahnte sich einen Weg zu den Gendarmen am Tatort. An der rechten
Mansardentür kauerte ein Mann am Boden. »Lene«, murmelte er unablässig, »meine Lene.«
Das Gesicht wirkte ausdruckslos und die Augen schimmerten glasig. Man konnte an
seiner verstörten Miene deutlich das Leid ablesen. Gideon Horlitz waren volkstümliche
Instinkte wie Mitleid für einen völlig Fremden unbekannt, doch den jungen Bentheim
dauerte diese Kreatur.
Einer der
Gendarmen deutete mit einem Kopfnicken zur zweiten Mansardentür, und Horlitz und
Bentheim wandten sich um. Gemeinsam betraten sie die Dachwohnung des Professors.
In dem Ofen in der Raummitte knisterte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme.
Auf einem Stuhl vor der hinteren Paneelwand saß ein unförmiger kleiner Mann mit
fuchsrotem Haarschopf. Der Anwalt namens Görne hatte sich über ihn gebeugt und redete
ununterbrochen auf ihn ein. Etwas abseits, vor dem Gaubenfenster, unterhielten sich
zwei Männer, von denen der eine Moritz Bissing war, jener als befangen geltende
Kommissar. Als er Horlitz erblickte, winkte er ihn heran.
»Gideon!
Schön, dass du kommen konntest. Darf ich vorstellen? Der Herr an meiner Seite ist
Untersuchungsrichter Karl Otto von Leps.«
Sie reichten
sich die Hände. Die des Richters, eines greisenhaften Mannes mit hagerem Schädel,
war eiskalt.
»Sehr erfreut«,
sagte Horlitz ehrerbietig.
Bissing
fuhr fort: »Ich habe den Herrn Richter darüber informiert, dass der geständige Mörder
wie ich Angehöriger des anthropologischen Renan-und-Feuerbach-Vereins sowie korrespondierendes
Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ist. Herr Professor Goltz und
ich haben uns bei verschiedenen Anlässen bereits getroffen und sind einander bekannt.
Ich habe mir deshalb erlaubt, einen Boten nach dir auszusenden, Gideon, da ich wusste,
dass du heute Nachtdienst schiebst.«
»Kannst
du mich aufklären, was inzwischen alles veranlasst wurde?«
»Herr Kommissar,
verzeihen Sie, wenn ich mich einmische«, sagte der Richter. »Aber da Sie nun vor
Ort sind, ist die Anwesenheit von Kollege Bissing nicht mehr vonnöten. Seine Bekanntschaft
mit dem Täter ist heikel und ich entbinde ihn hiermit von seiner Aufgabe.«
Moritz Bissing
verbeugte sich wortlos, klopfte Horlitz freundschaftlich auf die Schulter und zog
sich zurück. Karl Otto von Leps beäugte scharf den jungen Maler, der zwei Schritte
hinter dem Kommissar stand und alles mit angehört hatte. »Und Sie sind …?«
»Mein Protegé«,
antwortete Gideon an Bentheims Stelle.
»Gut, gut.
Also, beginnen wir von vorn: Die Nachbarsfrau, eine verwitwete Frau Bettine Lützow,
hat Alarm geschlagen. Ihrer Aussage nach pochte Professor Goltz in aller Seelenruhe
an ihre Tür und eröffnete ihr, soeben einen Mord begangen zu haben. Die Lützow erschrak
natürlich – wer kann ihr das verdenken? An den exakten Wortlaut des Geständnisses
erinnert sie sich nicht, aber ungefähr tat Goltz dies mit folgenden Worten kund:
Ich habe gerade Ihre Nachbarin umgebracht.«
»Sagte er
›umgebracht‹ oder ›getötet‹? Oder sogar ›ermordet‹?«
»Eine unbeabsichtigte
Tötung ist auszuschließen, wenn Sie darauf hinauswollen. Er muss methodisch vorgegangen
sein. Opfer ist übrigens die 21-jährige Schlachtereigehilfin Magdalene Kulm, von
allen kurz Lene gerufen. Sie ist bei uns aktenkundig, da sie nebenberuflich der
Prostitution nachging und auch schon aufgegriffen wurde.«
»Magdalene«,
wiederholte der Kommissar sinnierend. »Nomen est omen. Und was geschah dann?«
»Der Professor
ging seelenruhig in sein Zimmer zurück, wo er auf die eintreffenden Beamten wartete.«
Der Alte deutete mit einer raschen Armbewegung auf den rothaarigen Mann. »Seither
sitzt er auf seinem Stuhl und schweigt beharrlich.«
»Wer ist
der arme Kerl auf dem Flur?«
»Wenn es
nach der Lützow geht, der Verlobte von Fräulein Kulm. Meiner Meinung nach wohl eher
ihr Liebhaber und Zuhälter. Aber man muss ihm zugestehen, dass er arg gebeutelt
ist. Nun zu Ihnen, Horlitz: Machen Sie was aus dem Fall. Gehen Sie dem Staatsanwalt
zur Hand, bevor er wieder einen Bock schießt.« Er senkte die Stimme, als er hinzufügte:
»Unter uns gesagt, alle wissen, dass er eine Schande seiner Zunft ist.«
Julius
Weitere Kostenlose Bücher