Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
sofort, konnte sich zu einem jener üblen, völlig sinnlosen Telefongespräche ausbreiten, die ein Mensch, der mit seiner Zeit besseres zu tun hat, hassen muss. „Dann sind Sie wahrscheinlich Herr Marxer, ja?“ Endlich etwas Konkretes. „Der bin ich.“ Die Frau lachte. „Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte mit Oxana sprechen, aber sie geht nicht an ihr Handy. Ist sie zufällig da? Vika hier.“
Der Name hatte in Oxanas Notizbuch gestanden. Vika. Klang nicht schlecht. Weder der Name noch die Stimme. Marxer lachte kurz und artig zurück. „Ach so, ja, also nein, also Oxana...“ Fass dich, Marxer! „Also Oxana ist leider nicht da, ich mache mir auch schon Sorgen.“ Was nicht ganz stimmte. Er machte sich Sorgen um sich selbst, Oxana kam sehr gut ohne ihn zurecht.
Vika sagte nichts. Sie überlegte, das hörte man, weil man nichts hörte. „Merkwürdig“, kam es dann endlich, „aber alle meine Kontaktpersonen melden sich nicht. Kennen Sie die?“ Sie nannte ihm einige Namen, die er sehr wohl kannte. Klein, Hermine, Irmi, Borsig, die Zwillinge, Sonja Weber... „Ja, sehr merkwürdig“, bestätigte Marxer, „dort hab ich auch schon überall angerufen. Wie Sie ohne Erfolg. Ist es wichtig?“ Vika machte „hm“. Marxer machte „hm“. Vika sagte: „Kann man so sagen. Bei Ihnen auch? Wissen Sie etwa...“ Was wusste Marxer? Egal. Er sagte: „Ich glaube schon. Vielleicht könnten wir uns treffen? Sind Sie in der Stadt?“ Wieder lachte Vika. „Nein, nein, ich bin auf Jersey.“ Marxer sah hinauf zur Decke. Eine Insel! Danke, lieber Gott!
252
Die Überfahrt nach Jersey dauerte lange genug, um sich eine plausible Geschichte zu überlegen. Vika hatte die Augen geschlossen, außer dem Schiffsgeräusch war nichts zu hören, die Fähre beförderte zu dieser Jahreszeit nur ältere Damen auf die Insel der Steuerhinterzieher und Briefkastenfirmen, Frauen, die englischen Tee trinken, englisches Gebäck essen wollten oder Mütter vielbeschäftigter deutscher Handwerker waren, die ihr Schwarzgeld nicht selbst ins Ausland transportieren konnten. Sogar als man die internationalen Gewässer erreicht hatte und endlich die Blechjalousien der Verkaufsstände hochgezogen wurden, blieb der sonstige Tumult aus. Ältere Damen machten sich nichts aus billigem Schnaps und günstigen Zigaretten, wie es schien.
Das Meer war ruhig geblieben und der Hafen von St. Helier wetteiferte mit ihm. Am Schalter der Tourist Information schälte sich eine schläfrige Blonde aus ihren fernen Gedanken, empfahl ein nettes kleines Hotel am Rande der Stadt und den Taxistand vor dem Terminal. Aber Vika hatte sich entschieden zu laufen, ihre Reisetasche war nicht schwer, der Weg tat ihr gut, die allmähliche Eroberung St. Heliers, wo man unkomplizierter einen Hedgefonds gründen als ein Brot kaufen konnte, wo es ein Kriegsmuseum gab, das von der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs berichtete. Das interessierte Vika nicht. Sie suchte etwas anderes, sie suchte einen Friedhof.
Sehr bizarr war das hier. Kalt – und am Horizont eine Palme, dahinter auf einer vorgelagerten kleinen Insel die Silhouette einer gewaltigen Festungsanlage. Sie lief durch die Innenstadt, kam an Parks vorbei – richtig, Jersey war eine Blumeninsel, obwohl man zu dieser Jahreszeit nichts davon sah – und die Straßen schlängelten sich hügelaufwärts, der Friedhof war ausgeschildert, von einer mannshohen Mauer umgeben. Vika stellte ihre Reisetasche auf einer Ruhebank am Eingang ab, das Tor war offen.
Was sofort auffiel und überraschte war, dass alle Gräber nicht zu Schaufenstern für Blumengeschäfte und Floristen umgestaltet worden waren. Das sagte Vika zu. Sie ging langsam durch die Reihen, blieb bei den alten und verwitterten Steinen stehen, las, was in sie eingemeißelt worden war, 20jährige Fischer, auf dem Meer ertrunken, französische Namen auch, Adlige, die vor der Französischen Revolution auf die Insel geflüchtet waren. Hatte hier nicht auch Victor Hugo eine Zeitlang gelebt? Nein, auf der Nachbarinsel Guernsey wohl, es gab ein Buch von ihm über diese Zeit, könnte man sich besorgen.
„Is that yours?“ Sie hatte ihn nicht kommen hören, erschrak, als seine Stimme sie am Hinterkopf traf. Wandte sich ihr zu. Ein älterer, distinguierter Herr, der ihre Reisetasche in der Rechten hielt. „Meine Tasche?“ Sie sagte es auf Deutsch, einen Moment lang verwirrt. Der Herr lächelte und antwortete, ebenfalls auf Deutsch, von einem feinen Akzent
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