Die Eisfestung
Überall gefrorener Schlamm und Wasser, nirgendwo ein Hügel in Sicht. Der Burggraben war der einzige Ort, wo man mit seinem Schlitten hinkonnte, und von dort wurde sie jetzt vertrieben, zurück nach Hause und zu ihren Eltern, wo alles stickig und muffig war.
Sie war so überwältigt von ihrer hilflosen Wut, dass sie ihn erst bemerkte, als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war. Eine plötzliche Bewegung ließ sie aufschauen. Und da sah sie ihn. Er stand an der tiefsten Stelle des Grabens. Ein Junge, den sie nicht kannte.
Er wirkte etwas älter als sie, vielleicht fünfzehn, dünn, dicke schwarze Haare, die unter der dunkelblauen Pudelmütze in alle Richtungen hervorstanden. Er trug einen blauen Anorak, der ziemlich warm aussah, aber seine Turnschuhe mussten schon ganz durchgeweicht sein. Und er hatte keine Handschuhe an. Er presste den Schnee mit seinen bloßen Händen zu festen Schneebällen zusammen und schmiss sie zu der halb eingestürzten Mauer oben am Grabenrand hoch. Einen Schneeball nach dem anderen. Sie prallten gegen das Mauerwerk oder versanken mit einem sanften Geräusch im Schnee am Fuß der Mauer. Doch da oben, soweit Emily das sehen konnte, war niemand. Der Junge war allein.
Emily stand da und schaute ihm zu. Er verriet mit keiner Regung, dass er sie auch gesehen hatte, sondern bückte sich nach einer Handvoll Schnee für den nächsten Schneeball. Er warf ihn mit aller Kraft in Richtung Mauer. Als das Geschoss am weißen oberen Rand der Böschung zerschmetterte, gab er einen missbilligenden Laut von sich.
Seine Hände waren rot von der Kälte.
»Versuchst du, sie über die Mauer werfen?«, fragte Emily.
Der Junge drehte sich nicht um. »Ja.«
»Ist aber sehr hoch.«
»Einmal hab ich’s geschafft, aber meine Arme werden müde.«
»Warum hörst du dann nicht auf?«
Der Junge antwortete nicht, sondern packte mit seinen eiskalten Fingern den nächsten Schneeball und warf ihn. Der schaffte es den halben Abhang hoch und plumpste dann kraftlos nach unten.
»An deiner Stelle würde ich jetzt aufhören«, sagte Emily.
»Was ich bräuchte, wäre eine Belagerungsmaschine«, erklärte der Junge, rieb sich die klammen Hände und stopfte sie dann in die Anoraktaschen. »Ein riesiges Katapult. Damit könnte ich es aus vielen Meilen Entfernung schaffen.«
»Was denn?«
»Felsbrocken auf die Verteidiger schleudern. Oder pechgetränkte brennende Wurfgeschosse, um alles anzuzünden. Das wäre am besten.«
Emily schaute den Jungen an. Er hatte ein schmales, langes Gesicht, blasse Haut und dunkle unruhige Augen, die dauernd zwischen ihr und dem Mauerstück hin und her sprangen.
»Ich hab gedacht, Burgen sind aus Stein«, sagte sie. »Mit Feuer wäre dann nichts zu machen.«
»Die Nebengebäude waren oft aus Holz«, antwortete der Junge. »Aber du hast Recht. Feuer würde nicht viel ausrichten, ein paar Verteidiger würden zu Grillkohle, das ist alles.«
Ein kurzes Schweigen.
»Eine andere Möglichkeit«, fuhr er fort, »wären natürlich Köpfe.«
»Köpfe?«
»Von Feinden. Von Leuten des Ritters, die bei Scharmützeln umgekommen waren, oder von Dorfbewohnern. Wir würden ihnen die Köpfe abhacken und sie dann über die Mauer katapultieren. Kleiner Gruß an ihre Familienangehörigen und Freunde. Nennt man psychologische Kriegsführung.«
»Schneebälle sind mir lieber«, sagte Emily.
Wieder Schweigen.
»Bist du hier aus der Gegend?«, fragte der Junge schließlich.
»Aus dem Dorf. Und du?«
»Ich bin von King’s Lynn mit dem Fahrrad gekommen. Halbe Stunde, mehr nicht.«
»Und wo hast du dein Fahrrad?«
»Hinter der Hecke.«
»Ach so.« Damit schien der Gesprächsstoff erst mal ausgegangen zu sein. Emily hatte die Stufen erspäht, die aus dem Graben hochführten. Sie setzte sich wieder in Bewegung.
»Magst du keine Burgen?«, fragte der Junge plötzlich.
»Doch. Aber jetzt ist mir kalt. Ich muss mich bewegen.«
»Burgen sind der Wahnsinn. Jede ist anders. Sie mussten sich immer wieder was Neues ausdenken, weißt du, wegen der ganzen Entwicklungen in der Kriegstechnik. Die hier stammt noch aus der Anfangszeit.«
»Tatsächlich?« Emily trat von einem Fuß auf den andern, aber sie fand es unhöflich, einfach wegzugehen, während der Junge auf sie einredete.
»An der Kernburg, daran kann man das erkennen. Später haben sie so was nicht mehr gebaut. Solche befestigten Wohntürme konnten viel aushalten, aber es war alles sehr eng. Und wenn sie eckig waren, wurden sie immer
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