Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
1
Livia Azalina, blond
und grünäugig, lehnte sich in die Polster ihres
Erste-Klasse-Coupes zurück, legte die Beine auf den
gegenüberliegenden Sitz und zündete sich eine Zigarette
an. Dann starrte sie durch ihr undeutliches Spiegelbild hindurch in
die Dunkelheit hinter den Scheiben und dachte an das heiße
Bad, das sie in weniger als einer Stunde nehmen würde. Obwohl
sie den größten Teil des Nachmittags schlafend verbracht
hatte, fühlte sie sich immer noch erschöpft und um
mindestens zehn Jahre gealtert.
Kurz hinter Padua
hatte es angefangen zu regnen, und vermutlich würde es immer
noch regnen, wenn der Zug in Venedig ankam. Ihr Gondoliere —
sie konnte sich inzwischen den Luxus einer eigenen Gondel leisten
— hatte die Anweisung, sie am Anleger vor dem Bahnhof zu
erwarten. Fünfzehn Minuten später würde sie ihre
wohlgeheizte Wohnung betreten. Sie hatte sich fest vorgenommen, ein
paar Tage lang niemanden zu sehen, schon gar keinen Mann. Den
Termin, den sie übermorgen Abend mit einem pensionierten
Hofrat hatte, würde sie absagen.
Normalerweise
hätte Livia Azalina es strikt abgelehnt, außerhalb
Venedigs zu arbeiten. Seitdem sie aufgrund ihrer hohen
Einkünfte beinahe als honorate galt, bestimmte sie
ihre Arbeitsbedingungen weitgehend selbst. Ihre Kundschaft, ein
fester Stamm, der sich aus gehobenen Kreisen rekrutierte, pflegte
sie ausschließlich in ihrem verspiegelten Boudoir in der Rio
Terra Rampani zu empfangen. Aber das Angebot, das man ihr vor einer
Woche gemacht hatte, war äußerst attraktiv gewesen und
der Mann, der es vermittelt hatte, ein guter Kunde —
ein cortegiano, auf dessen Wort sie
sich verlassen konnte.
Der Auftrag hatte
darin bestanden, zusammen mit einem halben Dutzend anderer Damen,
ein paar Herren in einer Villa in der Nähe von Vicenza
Gesellschaft zu leisten und sich anschließend mit einem der
Cavalieri in ein Schlafgemach zurückzuziehen, wo sie ihm den
Rest der Nacht und den Vormittag zur Verfügung stehen sollte.
Bei solchen Aufträgen — mit denen die Herren in der
Regel erfolgreiche Geschäftsabschlüsse feierten —
hatte sie schon seit Jahren abgewinkt. Doch in diesem Fall war das
angebotene Honorar sensationell gewesen, und an Ort und Stelle
hatten sich die Herren als leidlich angenehm
herausgestellt.
Sie war gestern bei
einbrechender Dunkelheit in der Villa eingetroffen, nachdem ein
gepflegter Landauer sie am Bahnhof von Vicenza abgeholt hatte. Im
Salon des Hauses, wo sich die Herren und die anderen Mädchen
bald versammelten, gab es Champagner, Kaviar, Austern, die auf
einem Buffet arrangiert waren. Ein Besucher, der nichtsahnend zu
ihnen gestoßen wäre, hätte die kleine Versammlung
für eine seriöse Abendgesellschaft gehalten. Offenbar
hatte man sich darauf geeinigt, im Salon das Dekorum zu wahren und
erst in den Schlafzimmern zur Sache zu kommen.
Die Nacht und einen
Teil des Vormittags hatte sie mit einem übermäßig
aktiven Cavaliere verbracht, der Italienisch mit französischem
Akzent sprach. Wie jede Frau ihres Gewerbes schätzte Livia
Azalina übermäßig aktive Kunden wenig —
speziell wenn ein Pauschalpreis vereinbart worden war. Aber sie
hatte gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Nachdem sich der
Cavaliere gegen Mittag verabschiedet hatte, war sie
schließlich erschöpft eingeschlafen.
Gegen Abend wurde sie
wieder von einer Kutsche zum Bahnhof von Vicenza gebracht, wo sie
den Neun-Uhr-Zug nach Venedig nahm. Das vereinbarte Honorar hatte
ihr ein Majordomus in einem Beutel aus Hirschleder überreicht.
Sensationelle fünfhundert Gulden in Gold — was dem
Halbjahressold eines kaiserlichen Generals entsprach. Sie hatte
sofort nachgezählt. Es fehlte keine einzige
Münze.
Wohin die anderen
Damen verschwunden waren, wusste sie nicht. Zwei von ihnen kannte
sie flüchtig — eine rundliche Blondine und eine
stupsnasige Brünette, die vor ein paar Jahren noch auf der
Straße gearbeitet hatten. So hatte sie ebenfalls angefangen,
aber das war inzwischen mehr als zehn Jahre her, und sie zog es
vor, sich nicht an diese Periode ihres Lebens zu
erinnern.
Livia Azalina
zündete sich eine zweite Zigarette an, stand auf und strich
ihr Kleid glatt. Dann kniete sie sich auf die grünen Polster,
um ihr Gesicht in dem Spiegel zu betrachten, der über den
Sitzen angebracht war. Was sie sah, war selbst im funzeligen Schein
der beiden Petroleumlampen, die das Coupé erhellten,
deprimierend. Kein Zweifel — sie wurde alt. Die scharfen
Linien links und rechts des
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