Die Entfuehrten
Komisch. Komisch.
»Sag mal, kannst du nicht lesen, Jo-Nussknacker?«, fragte Katherine, so nervtötend wie immer. »Der hier ist für dich.«
Sie nahm einen weißen Umschlag vom Stapel und drückte ihn Jonas in die Hand. Auf dem Adresskopf stand wirklich
Jonas Skidmore
, aber es war nicht die Art von Post, die er normalerweise bekam. Sonst waren es lediglich Postkarten oder Schreiben, die ihn an Schulveranstaltungen erinnerten, an Basketballereignisse oder Pfadfinderausflüge. Dieser Umschlag wirkte hochoffiziell und amtlich, wie eine wichtige Nachricht.
»Von wem ist er?«, wollte Katherine wissen.
»Steht nicht drauf.« Auch das war seltsam. Jonas drehte den Umschlag um und riss ihn auf. Dann zog er ein dünnes Blatt heraus.
»Zeig her«, sagte Katherine und drängte sich so heftig an ihn, dass ihm das Blatt aus der Hand fiel.
Der Brief segelte langsam zur Türschwelle hinab, aber Jonas hatte bereits jedes Wort auf der Seite gelesen.
Es waren nur fünf:
DU BIST EINER DER VERSCHOLLENEN.
Zwei
Katherine schnaubte.
»Eine verschollene Socke vielleicht«, sagte sie.
Jonas bückte sich und hob den Brief auf. Als er sich wieder aufrichtete, stand Chip auch schon neben ihm auf der Veranda. Entweder war er ebenfalls neugierig auf den Brief oder er war wirklich in Katherine verknallt.
»Was ist das?«, fragte er.
Jonas zuckte die Achseln.
»Wohl nur ein blöder Streich«, sagte er. In der siebten Klasse drehte sich alles um Streiche. Man merkte immer, wenn bei jemandem in der Nachbarschaft ein Freund übernachtete, weil dann bei nicht eingeladenen Kindern plötzlich haufenweise Klopapier in den Bäumen im Vorgarten hing. Oder das Handy klingelte mitten in der Nacht und jemand sagte: »Ich kann dich sehen«, gefolgt von schallendem Gelächter.
»Streiche sollen aber lustig sein«, wandte Katherine ein. »Und was ist daran lustig?«
»Nichts«, sagte Chip. Jonas fiel auf, dass Chip Katherine anlächelte, statt auf den Brief zu schauen.
»Wenn dort stehen würde: ›Der Verstand von Jonas S. ist seit gestern verschollen. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen‹ oder ›Die Hirnzelle des kleinen Jonas ist verschollen. Sie kann im Kinderparadies abgegeben werden‹, das wäre vielleicht lustig«, sagte Katherine. Sie riss ihrem Bruder den Brief aus der Hand. »Lasst mir ein paar Minuten Zeit. Ich könnte daraus etwas wirklich Witziges machen.«
Jonas holte sich den Brief zurück.
»Schon gut«, sagte er und stopfte sich das Blatt in die Tasche seiner Jeans.
Er wusste, dass es nur ein Streich war – es konnte nicht anders sein –, trotzdem hatte er die Worte
DU BIST EINER DER VERSCHOLLENEN
einen Moment fast geglaubt. Vor allem, weil er Chip gerade erzählt hatte, dass er ein Adoptivkind war. Was war, wenn er wirklich irgendwo verschollen war? Er wusste nicht das Geringste über seine leiblichen Eltern; sämtliche Adoptionsunterlagen wurden unter Verschluss gehalten. Als kleines Kind war es ihm schwergefallen, sich darunter etwas vorzustellen. Er war damals ganz versessen auf Tiere gewesen, deshalb hatte er sich zunächst vorgestellt, dass seine Unterlagen in einer Art Käfig gehalten wurden. Später, als seine Eltern es ihm ein wenig besser erklären konnten, hatte er sich Kisten vorgestellt, die hinter schweren Vorhängeschlössern in Kammern eingeschlossen waren. Er war ein ziemlich merkwürdiger kleiner Junge gewesen.
In der zweiten Klasse – bei dieser Erinnerung brannte ihm vor Scham das Gesicht – hatte er sogar einen Vortrag über verschiedene Verschlussarten gehalten: von Deckelverschlüssen über Schraubverschlüsse bis hin zu verschlossenen Adoptionsunterlagen. Sein Vortrag hatte mit dem Satz geendet: »Und deshalb ist es so interessant, dass ich adoptiert wurde, weil es mich zu etwas Besonderem macht.« Seine Eltern hatten ihm dabei geholfen.
Moment mal – Tony McGilicuddy war mit ihm in die zweite Klasse gegangen und Jacob Hanes und Dustin Cravers . . . Vielleicht erinnerten sie sich ebenfalls noch daran? Vielleicht hatten sie ihm deswegen diesen Brief geschickt?
Jonas starrte Katherine mit zusammengekniffenen Augen an, dass diese unter seinem Blick einen Schritt zurückwich.
»Weißt du was?«, sagte er und funkelte sie an. »Du hast recht. Das ist überhaupt nicht witzig.« Er zog den Brief wieder aus der Hosentasche und riss ihn in kleine Stücke. Die Schnipsel drückte er Katherine in die Hand. »Wirfst du die bitte für mich weg?«
»Äh, na gut«, sagte sie, weil ihr
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