Die Entfuehrten
Seine Eltern hatten schon von Jahren aufgehört, sich über nicht leer gegessene Teller aufzuregen, nachdem seine Mutter einen Artikel über Fettleibigkeit im Kindesalter gelesen hatte.
»Ich stelle alles in den Kühlschrank und esse es später«, sagte Jonas und griff nach seinem Teller.
»Ich mache das schon«, sagte seine Mutter ruhig und nahm ihm Teller und Besteck ab. »Geh und hilf Chip.«
Jonas warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Hühnchen und ging wieder zur Haustür. Es wäre ihm fast recht gewesen, wenn seine Eltern Nein gesagt hätten, er dürfe nicht einfach vom Essen aufstehen. Er hatte keine Ahnung, was andere Leute sich vorstellten, wie er Chip helfen sollte. So, wie Chip sich benahm, könnte man glauben, er wollte einen Mord gestehen. Oder vielleicht hatte er gerade herausgefunden, dass seine Eltern im Begriff waren, sich zu trennen, und er musste sich entscheiden, bei wem er leben wollte. Etwas in der Art. Jonas kannte einen Jungen, dem daspassiert war. Es war furchtbar gewesen. Nur wusste Jonas in solchen Dingen auch keinen Rat.
Chip drückte sich an der Scheibe der Haustür förmlich die Nase platt, während er zusah, wie Jonas zurückkam.
»Komm«, sagte Jonas. »Gehen wir auf mein Zimmer.« Auch das war merkwürdig, weil Chip noch nie in Jonas’ Zimmer gewesen war. Sie waren die Art von Freunden, die zusammen in der Auffahrt Basketball spielten und vielleicht noch in der Küche einen Schluck Wasser zusammen tranken, aber keine »Komm, gehen wir in mein Zimmer«-Kumpel. Jonas hielt Chip die Haustür auf und dieser folgte ihm die Treppe hinauf. Chip sah sich nicht einmal um, als sie Jonas’ Zimmer betraten. Das war auch ganz gut so, dann würde ihm vielleicht nicht auffallen, dass Jonas neben den Sportpostern immer noch die Abbildung einer LEG O-Achterbahn aus der dritten Klasse an der Wand hatte.
Jonas machte die Tür zu und setzte sich aufs Bett. Chip ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.
»Ich hab auch einen bekommen«, sagte er. Er hatte die Hände an die Wangen gelegt und sah fast aus wie der Junge in
Kevin allein zu Haus
.
»Einen was?«, fragte Jonas.
»Einen von diesen Briefen. Über die Verschollenen.«
Chip zog ein Blatt Papier aus der Hosentasche. Es war unverkennbar, dass er es schon viele Male gefaltet hatte, denn die Knickstellen begannen bereits einzureißen.Chip faltete den Brief ein weiteres Mal auseinander und Jonas erkannte, dass er genauso aussah, wie der, den er bekommen hatte: fünf gedruckte Worte auf einem ansonsten leeren Blatt:
DU BIST EINER DER VERSCHOLLENEN.
»Chip, das ist ein
Streich
«, sagte Jonas. »Ein Witz, der nicht einmal lustig ist.« Aber insgeheim dachte er: Chip ist nicht mit Dustin, Jacob und Tony in die zweite Klasse gegangen. Und soweit ich weiß, wurde er auch nicht adoptiert. Also ist das wirklich nur blöd. Jonas lehnte sich an die Wand, entspannter, als er sich seit Stunden gefühlt hatte. »Es hat nichts zu sagen«, sagte er.
»Ja, das dachte ich auch«, sagte Chip. »Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich war sogar ziemlich froh, als ich ihn aus dem Briefkasten zog. Ich dachte: ›He, ich bin nicht mehr nur der Neue. Jemand macht sich die Mühe, mir einen Streich zu spielen. Einen blöden Streich, aber immerhin.‹«
Jonas zuckte die Achseln.
»Dann bleib dabei«, sagte er. »Meinen Glückwunsch. Du hast einen Juxbrief bekommen.«
Chip beugte sich abrupt nach vorn, sein Gesicht war plötzlich wie versteinert.
»Nein«, sagte er. »Nein. Denn dann bin ich reingegangen. Und mein Dad stand da und ich hab zu ihm gesagt: ›Sieh mal, Dad. Ich habe einen Juxbrief bekommen.‹ Und dann habe ich ihm alles erzählt: dass du den gleichen Brief bekommen hast und mir geradeerst erzählt hattest, dass du adoptiert worden bist. Und dass ich sehen konnte, wie sauer du über diesen Brief warst, und ich annahm, es hätte vielleicht etwas damit zu tun, dass du wegen dieser Adoptionsgeschichte ein bisschen empfindlich bist . . .«
»Bin ich aber nicht!«, sagte Jonas.
Chip achtete gar nicht auf ihn.
»Und dass du den Brief zerrissen und deiner Schwester die Schnipsel ins Gesicht geschleudert hast . . .«
»Das hab ich nicht – nicht ins
Gesicht
!«
Chip redete weiter, als hätte Jonas gar nichts gesagt.
»Und ich habe einfach immer weiter und weiter geredet, dass der Brief gar nichts damit zu tun haben kann, dass du ein Adoptivkind bist, weil ich ja den gleichen bekommen habe und
nicht
adoptiert wurde, und . . . und . .
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