Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
umgeladen werden, das sie hinüber auf die Insel bringen würde. Luciano wusste nicht, wo. In den vergangenen Tagen hatten ihn andere Probleme beschäftigt als ihre Reiseroute. Vielleicht würden sie gar über Hamburg reisen und die Überfahrt mit den Vamalia zusammen machen? Man würde sehen.
Seine Gedanken schweiften wieder zu der Kiste, die neben der seinen stand, und zu der Vampirin, die eingesperrt dort drinnen lag. Ihre Ungeduld, ihr Blutdurst und ihr Zorn umgaben sie wie eine Wolke, die Luciano nur allzu deutlich spürte.
Er war noch niemals mit so schwerem Gemüt zu einem Akademiejahr gefahren. Nun ja, vor dem ersten Mal war er aufgeregt und verunsichert gewesen, doch damals waren ja alle zu ihnen nach Hause in die Domus Aurea gekommen, was den Erben der Nosferas einen gewissen Heimvorteil verschafft hatte. Oder auch nicht, musste Luciano zugeben, wenn er an seine erste Begegnung mit Franz Leopold zurückdachte. Er zog eine Grimasse. Wobei er sich heute an diese Schmach sogar mit einem Lächeln zurückerinnern konnte. Was war Leo doch für ein Widerling gewesen, und was hatten sie dann nicht alles Aufregendes zusammen erlebt.
Sein Lächeln verblasste, als Clarissa wieder in seinen Sinn zurückkehrte und ihm die Rolle einfiel, die Franz Leopold in Wien gespielt hatte. Luciano ballte die Hände zu Fäusten. Verfluchter Bastard! Wenn Leo sich nicht eingemischt, wenn er sie nicht gebissen hätte, dann wäre alles ganz anders verlaufen.
Wie anders? Vielleicht hätte Luciano dann nicht den Mut gefunden, Clarissa zu beißen und zu wandeln. Dann würde sie nun noch als Mensch im Palais Todesco bei ihrer Familie leben und er sie vielleicht niemals wiedersehen. Oder er hätte sich irgendwann von seiner Leidenschaft hinreißen lassen und sie ausgesaugt, bis sie in seinen Armen gestorben wäre. Genau genommen war das auch beinahe passiert. Nur Ivy hatte er es zu verdanken, dass es anders gekommen war. Ohne die Hilfe der Lycana hätte er nicht die Kraft besessen, Clarissa zu wandeln. So oder so wäre seine Liebe für ihn verloren gewesen. Vielleicht hatte das Schicksal es gut mit ihm gemeint, so wie alles gelaufen war?
Vorsichtig tastete er wieder nach der Vampirin in der Kiste nebenan. War Clarissa immer noch so wütend? Oder gewannen Blutdurst und Ungeduld nun die Oberhand? Diese Gefühle waren für einen so jungen Vampir durchaus normal. Wenn Luciano daran zurückdachte, wie sehr ihn früher der Blutdurst bereits nach wenigen Stunden ohne einen Trunk gequält hatte!
Vor ihrer Abfahrt war er guter Dinge gewesen, voller Hoffnung, in London würde sich alles zum Besten entwickeln. Er hatte mit Clarissa zusammen sogar schon eifrig Englisch gelernt, so wie die Vyrad es in ihrer Einladung zum neuen Akademiejahr verlangt hatten. Aber dann hatte der Conte kurz vor ihrer Abfahrt Clarissa zu sich gerufen und ihr mit deutlichen Worten klargemacht, was die Nosferas von ihren unreinen Servienten erwarteten. Sie waren die Diener der Vampire reinen Blutes. Nur dafür wurden sie von ihnen geschaffen! Als stille, dienstbare Geister, schattengleich und immer bereit, die Befehle ihres Meisters zu erfüllen.
Sobald sie zurück in seiner Kammer war, hatte sie getobt. Sie hatte ihn angeschrien und verflucht, ihm Verrat und allerlei andere unschöne Dinge vorgeworfen. Luciano hatte nicht zugehört. Er wollte sich von ihren unbedachten Worten nicht kränken lassen. Sie meinte es nicht so. Das würde ihr irgendwann klar werden.
Statt sich darauf zu konzentrieren, was sie sagte, sah er sie nur an. Wie schön sie war. Wie gut der Zorn ihr zu Gesicht stand. Fast konnte man den Hauch rosiger Wangen wieder erahnen, den er an ihr so hübsch gefunden hatte, als sie noch ein Mensch gewesen war. Ach, wie schön war ihre Liebe in diesen Tagen gewesen. Wie berauschend ihr Duft, wenn sie sich in seine Arme schmiegte, und wie wundervoll ihre Küsse. Würde es irgendwann wieder so sein?
Wir haben alle Zeit der Welt, versuchte er seine Ungeduld zu beschwichtigen. Sie ist kein Mensch mehr, der in wenigen Jahren verblüht. Ja, jeden Abend, wenn sie erwachte, sah sie so aus wie am Tag ihres Todes. Das war bei jedem unreinen Vampir so. Er dagegen wurde reifer und älter wie alle Erben der Clans, die von einem Vampir gezeugt und von einer Vampirin geboren worden waren. Viele Jahrzehnte würden seine Kräfte sich entwickeln und er immer stärker werden. Ein Vampir konnte viele Menschenleben überdauern, bis er irgendwann den Höhepunkt seiner Kraft
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