Die Erfindung der Einsamkeit
zufällig zwischendurch mal verheiratet war. Obwohl er sich seinen äußeren Pflichten als Ehemann nicht entzog (er war treu, er versorgte Frau und Kinder, er nahm alle seine Verantwortlichkeiten auf sich), war es ganz offenkundig, dass er sich für diese Rolle nicht eignete. Er hatte einfach kein Talent dafür.
Meine Mutter war gerade einundzwanzig, als sie ihn heiratete. Während der kurzen Zeit seiner Werbung hatte er sich anständig verhalten. Keine dreisten Annäherungsversuche, nichts von den atemlosen Attacken des brünstigen Männchens. Gelegentlich hielten sie sich an den Händen oder tauschten einen höflichen Gutnachtkuss aus. Nie hat einer dem anderen ein Liebesgeständnis gemacht. Zum Zeitpunkt der Hochzeit waren sie kaum mehr als Fremde.
Schon bald erkannte meine Mutter ihren Fehler. Noch ehe die Flitterwochen vorbei waren (diese Flitterwochen, so ausführlich dokumentiert auf den Fotos, die ich gefunden habe: eins zum Beispiel, wo die beiden zusammen auf einem Felsen am Rand eines vollkommen stillen Sees sitzen, hinter ihnen führt ein breiter Streifen Sonnenlicht zu dem im Schatten liegenden Kiefernhang, mein Vater hält meine Mutter in beiden Armen, und die zwei sehen einander zaghaft lächelnd an, als hätte der Fotograf sie einen Augenblick zu lang in dieser Pose verharren lassen), noch ehe also die Flitterwochen vorbei waren, wusste meine Mutter, dass diese Ehe nicht funktionieren würde. Tränenüberströmt ging sie zu ihrer Mutter und sagte, sie wolle ihn verlassen. Irgendwie gelang es ihrer Mutter, sie dazu zu überreden, zurückzugehen und es wenigstens einmal zu versuchen. Und dann, noch bevor der Staub sich gelegt hatte, merkte sie, dass sie schwanger war. Und plötzlich war es zu spät, noch etwas zu unternehmen.
Manchmal denke ich daran: wie ich in Niagara Falls, diesem Urlaubsort für Flitterwöchner, gezeugt worden bin. Nicht dass es eine Rolle spielte, wo es passiert ist. Aber der Gedanke an diese mit Sicherheit leidenschaftslose Umarmung, an dieses blinde pflichtbewusste Gefummel zwischen kalten Hotelbettdecken, hat mir noch jedes Mal demütigend bewusst gemacht, was für ein Zufallsprodukt ich bin. Niagara Falls. Oder das Hasardspiel zweier Körper, die sich vereinigen. Und dann ich, ein zufälliger Homunculus, der wie ein wilder Draufgänger in einem Fass den Wasserfall hinunterstürzt.
Etwas mehr als acht Monate später, am Morgen ihres zweiundzwanzigsten Geburtstags, wachte meine Mutter auf und sagte meinem Vater, das Baby wolle heraus. Lächerlich, gab er zurück, das Kind ist erst in drei Wochen fällig – sprach’s, fuhr zur Arbeit und ließ sie ohne Auto allein.
Sie wartete. Dachte, er könnte ja recht haben. Wartete noch ein wenig, rief dann eine Schwägerin an und bat sie, sie in die Klinik zu fahren. Meine Tante blieb den ganzen Tag bei meiner Mutter und rief meinen Vater alle paar Stunden an, er solle kommen. Später, lautete seine Antwort, ich habe noch zu tun, ich komme, wenn ich Zeit habe.
Kurz nach Mitternacht zwängte ich mich, mit dem Steiß voran und zweifellos schreiend, in die Welt hinaus.
Meine Mutter wartete auf das Erscheinen meines Vaters, aber er kam erst am nächsten Morgen – begleitet von seiner Mutter, die ihr Enkelkind Nummer sieben begutachten wollte. Ein kurzer nervöser Besuch, und dann wieder ab an die Arbeit.
Natürlich hat sie geweint. Schließlich war sie jung, und sie hatte nicht erwartet, dass es ihm so wenig bedeuten würde. Aber derlei konnte er nie begreifen. Weder am Anfang noch am Ende. Es war ihm nie möglich, dort zu sein, wo er war. Zeit seines Lebens war er immer irgendwo anders, zwischen hier und da. Aber niemals richtig hier. Und niemals richtig da.
Dreißig Jahre später wiederholte sich dieses kleine Drama. Diesmal war ich dabei, und ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.
Nach der Geburt meines Sohnes hatte ich gedacht: Das wird ihm doch sicher Freude machen. Freut es nicht jeden, Großvater zu werden?
Ich hatte sehen wollen, wie er über das Baby in Verzückung geriet; er sollte mir beweisen, dass er trotz allem fähig war, einmal Gefühle zu zeigen – dass er trotz allem Gefühle hatte wie alle anderen Menschen. Und wenn er Zuneigung zu seinem Enkel zeigen konnte, würde er damit nicht indirekt Zuneigung zu mir zeigen? Man hört nie auf, sich nach der Liebe seines Vaters zu sehnen, auch nicht, wenn man längst erwachsen ist.
Doch der Mensch ändert sich nicht. Insgesamt hat mein Vater seinen Enkel nur
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