Die Erfindung der Einsamkeit
im Haus herum, rannte durch die riesigen Räume der sich langsam leerenden Zimmer. Abends lagen meine Frau und ich unter monolithischen Bettdecken und sahen uns im Fernsehen irgendwelche Schundfilme an. Bis auch der Fernseher verschenkt wurde. Es gab Probleme mit dem Heizkessel, und wenn ich vergaß, Wasser nachzufüllen, schaltete er sich aus. Als wir eines Morgens aufwachten, war die Temperatur im Haus auf fünf Grad abgesunken. Zwanzigmal am Tag ging das Telefon, und zwanzigmal am Tag erklärte ich irgendeinem Anrufer, dass mein Vater gestorben sei. Ich war nur noch Möbelhändler, Spediteur und Überbringer schlechter Nachrichten.
Das Haus glich allmählich der Bühne für eine abgedroschene Sittenkomödie. Verwandte stürzten herein, baten um dieses Möbelstück oder jenes Essgeschirr, probierten die Anzüge meines Vaters an, kippten Kisten aus und schnatterten wie die Gänse. Auktionsveranstalter kamen, um die Ware zu begutachten («Keine Polstermöbel, die sind keinen Pfifferling wert»), rümpften die Nase und schritten davon. Müllmänner stampften mit schweren Stiefeln herein und schleppten Berge von Abfall hinaus. Der Wassermann las den Wasserzähler ab, der Gasmann las den Gaszähler ab, die Ölmänner lasen den Ölstand ab. (Einer von ihnen – ich weiß nicht mehr welcher –, dem mein Vater im Lauf der Jahre viel Ärger gemacht hatte, sagte mir mit brutaler Komplizenschaft: «Ich sag das nicht gern» – er meinte das Gegenteil –, «aber Ihr Vater war ein widerlicher Schweinehund.») Die Grundstücksmaklerin kam, um für die neuen Besitzer ein paar Möbel zu kaufen, und nahm am Ende einen Spiegel für sich selber mit. Die Inhaberin eines Kuriositätenladens erstand die alten Hüte meiner Mutter. Ein Schrotthändler rückte mit seinen Gehilfen an (vier Schwarze namens Luther, Ulysses, Tommy Pride und Joe Sapp) und schleppte alles weg, was noch übrig war: angefangen bei einem Satz Hanteln bis hin zu einem kaputten Toaster. Als es vorbei war, war nichts mehr übrig. Nicht einmal eine Postkarte. Nicht einmal ein Gedanke.
Wenn es für mich in diesen Tagen einen einzelnen besonders schlimmen Augenblick gab, dann war es der, als ich im strömenden Regen über den Vorderrasen ging, um einen Armvoll Krawatten meines Vaters auf dem Lastwagen einer Wohltätigkeitsorganisation abzuladen. Es müssen über hundert Krawatten gewesen sein, und viele davon kannte ich noch aus meiner Kindheit: die Muster, die Farben, die Formen, die sich so deutlich wie das Gesicht meines Vaters in mein frühestes Bewusstsein geprägt hatten. Dass ich die jetzt wegwarf wie einen Berg Müll, war mir unerträglich, und in dem Moment, da ich sie in den Wagen warf, war ich den Tränen am nächsten. Das Wegwerfen dieser Krawatten schien mir die Idee des Begrabens stärker zu verkörpern als der Anblick des Sarges selbst, als er in die Erde gesenkt wurde. Endlich hatte ich begriffen, dass mein Vater tot war.
Gestern kam eins der Nachbarmädchen, um mit Daniel zu spielen. Ein Mädchen von etwa dreieinhalb Jahren, das vor kurzem gelernt hat, dass auch die großen Leute einmal Kinder gewesen sind und dass sogar seine Mutter und sein Vater Eltern haben. Irgendwann nahm sie den Hörer vom Telefon und spielte ein Gespräch, dann drehte sie sich zu mir um und sagte: «Paul, das ist dein Vater. Er will mit dir sprechen.» Es war schaurig. Ich dachte: Am anderen Ende der Leitung sitzt ein Gespenst, und er will tatsächlich mit mir sprechen. Es dauerte eine Weile, bis ich etwas sagen konnte. «Nein», platzte ich schließlich heraus. «Das kann nicht mein Vater sein. Er wollte heute nicht anrufen. Er ist irgendwo anders.»
Ich wartete, bis sie aufgelegt hatte, und ging dann aus dem Zimmer.
In seinem Schlafzimmerschrank hatte ich mehrere hundert Fotos gefunden – in verblassten braunen Umschlägen verstaut, auf die schwarzen Seiten welliger Alben geklebt, lose in Schubladen verstreut. Aus der Art ihrer Aufbewahrung schloss ich, dass er sie niemals angesehen und wohl vergessen hatte, dass sie überhaupt noch da waren. Ein sehr großes Album, kostspielig in Leder gebunden und mit einem in Gold geprägten Titel auf dem Umschlag – Unser Leben: Die Austers –, war innen vollständig leer. Jemand, vermutlich meine Mutter, hatte sich einmal die Mühe gemacht, dieses Album zu bestellen, doch niemand hatte sich je darum gekümmert, es zu füllen.
Zu Hause grübelte ich über diesen Bildern mit einer Faszination, die an Besessenheit
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