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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Darauf folgten die Jahre der Christbäume und Schaustellungen. Der Knabe wurde jede Woche ein-bis zweimal in die eiskalte ›gute Stube‹ gerufen; dort glotzte man ihn an, betastete ihm Haare, Wangen und Kinn, lehrte ihn fein artig Pfoten reichen und gegebenen Falls seinen klangvollen Vornamen mit bescheidener Größe aussprechen. Alle Welt fand ihn allerliebst, dem Vater, der Mutter, dem oder jenem Oheim »aus dem Gesicht geschnitten«, und wenige schieden ohne die erhabene Weissagung, der Knabe wird sich gewiß auch in der Schule seinerzeit sehr brav erweisen. Der Kleine hatte diesen Ausdruck hellseherischer Bewunderung oft genug vernommen. Und ohne viel Mühe, ja, ohne eigentlich zum Bewußtsein seines Erfolges zu kommen, überstand er die Volksschule, kletterte mit rühmenswerter, etwas pedantischer Sicherheit die acht Sprossen der Gymnasialleiter aufwärts und ging dann noch ein Jahr in den Hörsälen der Universität ein und aus, worauf er in der Stille der väterlichen Schreibstube verloren ging. Eines Tages munkelte man, der junge M. werde die Leitung des Geschäftes aus den Händen seines alternden Erzeugers nehmen, und kurz darauf geschahs. Der Vater starb bald, und der neue Herr wußte das Ansehen des Hauses zu wahren durch strenge Pünktlichkeit und ziemlichen Fleiß. Oft vernahm der unschlüssige Kaufmann aus dem Munde seiner Freunde, daß man sich erzähle, er habe große Unternehmungen vor, und staunender Bewunderung voll über den ihm zugeschriebenen Tatendrang begann er wirklich so manchen von seinen unterschobenen Plänen auszuführen; und so mancher gelang. So ging Jahr um Jahr hin. Die Verwirklichung der ihm vom Gerede der Menge zugesprochenen Absichten hatte seinen Wohlstand bedeutend vergrößert und nichts war natürlicher, als daß die Munkelmänner sich von der bevorstehenden Verlobung M.‘s manches zuraunten. Das Gerücht kam zu seinen Ohren; er wandte von da ab fast unwillkürlich seine Aufmerksamkeit der bezeichneten Braut zu, und in wenigen Wochen rieselte das säuselnde »Ja« der Erwählten in den rauschenden Brummbaß des jungen Gatten. Er hatte auch diesmal nicht die Erwartung der Leute getäuscht; er war ja doch ein Charakter!
    Längere Zeit planten die guten Bürger in M.‘s Wohn-und Vaterstadt den Bau eines Theaters. Nun weiß jedermann, daß noch kein Bühnenhaus aus gutem Willen, sondern sogar die allereinfachsten wenigstens aus schlechten Brettern errichtet worden sind. Von dem ersteren Material besaßen die Leute genug, zur Beschaffung des letzteren fehlte das Geld. Die fürsorglichen Stadtväter setzten die gerunzelten Stirnen früh morgens auf, und es wurde übel genug vermerkt, wenn einer das Zeichen ernster Würde abends beim Biertisch aufzubehalten vergaß.
    Wie ein Frühlingssturm flog da einst das Gerücht durch die Stadt, M. habe beschlossen, das zum Baue des Musentempels nötige Geld vorzustrecken. Und wie der Lenzwind die Vogelstimmen wachweckt, so rief diese Nachricht allenthalben klangreiches Lob hervor. Eine Abordnung des Stadtrates, das tauige Winterapfelgesicht des Herrn Bürgermeisters an der Spitze, trat wenige Stunden später in die Stube des Gönners. Das Oberhaupt dankte von beständigem Freudeglucksen unterbrochen für das hochherzige Geschenk. M. stand eine Weile ratlos da. Bald aber erriet er den Sinn dieser Freudebezeugung. Ein leichter Schatten zog über seine Stirne. Schon wollte er sich dieser Zumutung erwehren; dann aber fiel ihm ein, daß er durch diese scheinbare Wankelmütigkeit sich und sein Haus schädigen könne, und mit sauer-süßem Lächeln nahm er den Kontrakt entgegen, auf welchem eine nicht unbedeutende Summe verzeichnet stand. So wuchs der Ruhm und Ruf M.‘s von Jahr zu Jahr. Seit man in ihm nun auch den Kunstfreund erkannt hatte, erzählte man bald von dem, bald von jenem einheimischen Talent, das durch M.‘s hochherzige Unterstützung gefördert worden sei.
    Nur ein Einzigmal hätte der ›Charakter‹ die Erwartungen der Leute fast betrogen. Man sprach heimlich von einem »freudigen Ereignisse«, das im Hause M. »bevorstehe«. Und neugierige Blicke folgten der jungen Frau, sobald sie sich auf der Straße zeigte. Der edle Kaufherr gab sich denn auch alle redliche Mühe, die Menge recht bald zufriedenzustellen. Allein diesmal ward ihm das Glück untreu. Mit unwilligem Staunen stellten die guten Bürgerinnen fest, daß die M. noch immer anschließende Jacken trage, und daß da nichts »los sein« könne. Dann tuschelten sie leise

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