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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Strickstrumpf nahm sie auch mit in der linken Hand. In der rechten hielt sie den welken Mohn. So lief sie weit ins Feld hinein, dorthin, wo die schönsten, größten blühten.
    »Das wird eine Königin!« jauchzte sie und bückte sich, um eine prächtige Blume zu brechen.
    Da vernahm sie hinter sich rauhe Scheltworte. Der Bursche, der das Feld hütete, kam auf sie zu, einen tüchtigen Knüttel schwingend. Antje schrie auf, raffte sich empor und lief was sie konnte feldein. Hinter sich hörte sie die Tritte des Wächters immer näher.
    Sie lief und lief. Ihre Wangen waren sehr rot. Sie keuchte vor Anstrengung und Furcht. In der Linken preßte sie noch immer krampfhaft den Strumpf, in der Rechten trug sie die Mohnblumen.
    Jetzt war der Bursche ganz nahe.
    Sie nahm alle Kräfte zusammen. Sie drückte die Arme gegen die Brust … Da strauchelte sie über eine Erdscholle. Sie fiel. Ein Schrei.
    Dann blieb sie ganz still liegen.
    Mit einem Fluch beugte sich der Wächter über sie; rauh faßte er die Kleine am Arm und hob den Stock. Aber plötzlich ließ er ihn sinken.
    Da über die Blüten und über die Hand des Kindes träufelte etwas Rotes … er wandte den kleinen Körper um. Das Mädchen rührte sich nicht. Unter dem verwaschenen ärmlichen Schürzchen quoll Blut über die Brust.
    Die Stricknadel war ins Herz gedrungen. Die blauen Kinderaugen waren offen. Um die Lippen lag noch der Zug von Furcht und Schrecken.
    Klein-Antje war tot.
    Die bunten Mohnblumen ringsum aber neigten sich über ihre arme Freundin und flüsterten leise im Abendhauch …

Ein Charakter
Skizze
(1895/96)
    So ein rechter Begräbnistag. Feucht, finster, dickatmig. Der vierspännige Totenwagen rollte schwer über die glatten, runden Pflastersteine, die im Herbstlicht wie kahle Schädel glänzten, und seine Räder furchten tief die grauen, schmutzigen Lachen. Die Knechte der Leichenbestattungsanstalt trollten mürrisch mit den schwelenden Lichtern nebenher. Ihnen folgte die Menge der Leidtragenden. Von den Frauenzimmern zeugte nur eine dichte Reihe schwarzer Schleier, die sich wie berußte Spinngewebe zwischen dem Leichenkarren und den blanken Cylinderhüten der männlichen Trauergäste ausspannten. Die vorzüglichste Beschäftigung der ganzen, tiefbetrübten Gesellschaft war, Kleider und Hosen vor dem aufspritzenden Kot zu hüten; mit rührender Aufmerksamkeit tappten sie nach denjenigen Steininseln, die am meisten aus der unermeßlichen Flut aufragten; und auf so manchem Gesichte stand der wohlwollende Wunsch zu lesen, der Selige hätte besseres Wetter für seine beschwerliche Reise abwarten mögen. Zwei Herren nur, die in der dritten Reihe gingen, unterhielten sich ziemlich rege. An den Mienen konnte man ablesen, daß sie menschlich-milde Musterung hielten über des Verstorbenen Taten und Erlebnisse. Das endliche Ergebnis schien recht befriedigend. Sie nickten sich zu mit jenem ernsten Blick, der bei Leichenbegängnissen und anderen öffentlichen Festlichkeiten das geheime Erkennungszeichen biederer Männer bildet. Dann strich der eine sich die Falten im Gesichte glatt und raunte mit schwerwiegender Bewegung des rechten, schwarzen Handschuhs: »Ein Charakter.« Der Nachbar fand diesen Ausdruck so treffend, daß er nur imstande war, denselben mit verstärkter Betonung nachzusprechen: »Ein Charakter.« Und jetzt noch einmal der Biedermannsblick; dabei trat der eine so heftig in eine Pfütze, daß sein Hintermann ein unwilliges Gebrumm vernehmen ließ. Dann sprach keiner von beiden mehr ein Wort. Es ward still. Nur die Räder des Totenwagens knarrten, und die getretnen Lachen glucksten leise.
    Der »Charakter« war zur Welt gekommen als Sohn eines Mannes von mäßigem Wohlstande. Herr M., der Vater, besaß ein kleines Haus, einen großen Ehrbegriff und ein züchtiges Ehweib. Also ziemlich viel.
    Noch atmete der kleine M. nicht die Carbolluft der Wöchnerinnenstube, als die Frauen, welche der jungen Mutter beistanden, schon unter einander Blicke tauschten und tuschelten: »‘s wird ein Bub.« Sie verfolgten jede Bewegung der Frau, um in immer erregterem Tone ihre Vermutung auszusprechen. Und als endlich auf die brennende Frage die lebendige, rotbraune, faltige Antwort kam, da wars ein Bub! Der kleine M. wuchs und ward wie jeder andere; es kam die Zeit, da sich seine weichen Vorderfüßchen in ebensolche Hände umwandelten, und da die Finger dieser Hände nicht mehr auf den Dielen kribbelten, sondern mit Vorliebe sich in Mund und Nase aufhielten.

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