Die Erzaehlungen
gepredigt hätte, sie hätten, seinem Wort gehorchend, nie zu höherer Entwickelung emporklimmen dürfen. Nie kann die stumpfe, vielsinnige Menge Träger des Fortschritts sein; nur der ›Eine‹, der Große, den der Pöbel haßt im dumpfen Instinkte eigener Kleinheit, kann den rücksichtslosen Weg seines Willens mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln wandeln. Auch unser Geschlecht ist nicht die Spitze der unendlichen Pyramide des Werdens. Auch wir sind nicht vollendet. Auch wir sind unreif, nicht überreif, wie ihr im Dünkel so gerne wähnet. Darum vorwärts! Sollen wir nicht höher steigen dürfen in Erkenntnis, Willen und Macht? Soll es nicht den Starken gelingen, aus der Zwangatmosphäre des Massenneides emporzuschweben zum Lichte!?
Hört mich, ihr Alle: Ihr steht im Kampfe! Rechts und links fallen eure Nebenmänner; fallen, getroffen von Schwäche, Krankheit, Laster, Wahnsinn! … und wie alle die Geschosse heißen, die das schreckliche Schicksal speit. Laßt sie sinken!
Laßt sie hinsterben allein und elend. Seid hart, seid furchtbar, seid unerbittlich! Ihr müßt vorwärts, vorwärts!
Was schaut ihr so entsetzt? Seid auch ihr Schwächlinge, Alle? Fürchtet auch ihr zurückzubleiben?! Bleibt! Verendet wie Hunde! Der Starke nur hat Recht zu leben. Der Starke geht vorwärts … und die Reihen werden sich lichten; aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges das neue, gelobte Land erreichen. Vielleicht nach Jahrtausenden erst. Und sie werden ein Reich bauen mit starken, sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, der Schwachen, der Krüppel …
… Ein ewiges Reich!«
Sein Auge brannte. Er war aufgestanden. Die schwarze Gestalt erstreckte sich übergroß in die Höhe. Es war, als ob ein Lichtschein sie umrahmte.
Er sah wie ein Gott aus.
Sein Blick hing weit an der herrlichen Vision seiner Seele; dann kehrte er jäh aus den Fernen zurück, und er sprach:
»Ich gehe in die Welt, die Liebe zu töten. Kraft sei mit euch! Ich gehe in die Welt und predige den Starken: Haß! Haß! Aberhaß!«
Alle sahen sich sprachlos an. Die Baronin preßte, überwältigt von einem unbeschreiblichen Gefühl, ihr Tuch an die Augen.
Als sie aufsah, war der Platz am Ende der Tafel leer.
Ein Schauder durchrieselte alle.
Niemand sprach.
Die Diener reichten zaghaft die Speisen.
Mein Gegenüber, der dicke Bankherr, gewann zuerst seine Sprache wieder.
Er brummte zu mir her: »Das war entweder ein Narr, oder …« Das Folgende verstand ich nicht; denn er kaute mit vollen Backen ein Stück Hummerpastete.
Ihr Opfer
(1896)
Sag! Bist du schon mal an einem Spät-Septembermorgen eine mittelböhmische Landstraße gegangen? Der niedere, nebelschwangere, beengende Himmel scheint wie ein schmutzig graues Zeltdach auf die verkümmerten, fahlen Roßkastanien gespießt, welche die nußfarbige, von tiefen Räderrinnen gerunzelte Straße umgrenzen. Die rote Sonne hat ihr dunsttrunkenes Gesicht in dichte Schleier gehüllt; ein paar irre Strahlen huschen über die Wolkenwand und randen den Straßenkot mit gelben, dünnen Strichen. Ein mißmutiger Wind wälzt gelbe Blätter hin und wider und zerwirbelt den fadenscheinigen Rauch, der aus fernen Dorfdächern kriecht, das ist ein Bild von unsäglicher, unbeschreiblicher, hilfloser Wehmut. Wenn ich dies Bild denke, fühle ich einen großen Schmerz in der Nähe meines Herzens. Es zuckt dort etwas zusammen und zerrt, zerrt bis mir die Tränen in den Augen brennen…
Dasselbe Gefühl ist in mir wach wenn ich an das arme Weib denke, dessen Geschichte ich dir erzählen will.
Höre!
Die Dichter preisen die Liebe; und es muß doch etwas sein um ihre Macht. Ein Strahl der Sonne ist sie, der verklärt sagen diese, ein Gift, das berauscht, sagen jene. Und wirklich, ihre Wirkungen sind denen des Lustgases ähnlich, das der Arzt vor einer schweren Operation dem zitternden Kranken einflößt, der Leidende vergißt den wühlenden Schmerz…
Agnes hatte auch alles Ungemach vergessen, seit Wochen. Seit sie Hermanns Weib geworden war. Waren es denn wirklich Wochen? War es nicht vielmehr ein einziger lustschäumender Augenblick unnennbaren Glückes? Jene Zeit, wo Millionen neuer, süßer, geheimnisvoller Empfindungen im Herzen des Weibes wie Elfen aus mondgeküßten Blüten aufsteigen, wo die Jungfrau selbst zitternd staunt vor der Fülle der Gefühle, die in ihrem Innern ruhten, und wo ihr Auge glänzt wie eine heilige, ewige, erlösende Gottesverheißung.
In jener Zeit
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