Die Evangelistin
inne. Da ich jedoch als seine Tochter auf eine Stimme im Senat verzichten muss, werde ich es mir nicht nehmen lassen, meine Meinung außerhalb des Ratssaals frei zu äußern.«
Eingedenk meiner engen Beziehung zum Papst schluckte der Patriarch seine Antwort herunter.
»Ein Humanist ist nur glücklich, wenn er seine Feder schwingen kann«, fuhr ich unbeirrt fort. »Dieser ruhmsüchtige Florentiner Tintenkleckser müsste sich geschmeichelt fühlen, dass ich seine Beleidigungen überhaupt einer Antwort würdige und mich auf dieses Duell der spitzen Federn einlasse – das im Übrigen nicht er gewinnen wird!«
Vor einigen Wochen hatte Giovanni Montefiore der verstreuten Nation der Humanisten verkündet, er habe in einem ägyptischen Kloster eine uralte griechische Papyrushandschrift gefunden, die er für ein noch unbekanntes Evangelium hielt. Ich war zu ihm nach Florenz gereist, um mir den Papyrus anzusehen, denn auch ich besaß eine antike Handschrift aus dem Katharinenkloster im Sinai. Ich hatte es gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen, dass ich sein Evangelium für eine Fälschung hielt. Wohlgemerkt: Ich hatte nie erklärt, dass ich ihn für einen Fälscher hielt, sondern lediglich die Echtheit des Papyrus bestritten. Denn weder die Tinte noch die griechische Sprache, in der das Dokument verfasst war, entstammten der Antike. Zudem endete der Text mitten im Satz, als sei der Schreiber bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Ich weigerte mich also, diesen Papyrus als Evangelium zu bezeichnen.
Seither verspritzte Giovanni Montefiore Unmengen von Tinte, um mich zu beleidigen, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen und mein Urteil über den Papyrus lächerlich zu machen: Ich war ja nur eine Frau! Doch inzwischen war der umstrittene Papyrus auch von anderen Gelehrten als Fälschung entlarvt worden. Viele Humanisten in ganz Europa hatten die Korrespondenz mit ihm eingestellt. Sic transit gloria!
Kardinal Domenico Grimani, der zur Feier der Himmelfahrt Christi aus Rom angereist war, schien sich im Gegensatz zum Patriarchen über mein Duell der Federn mit Montefiore zu amüsieren. Hatte der Papst ihm mein Manuskript gezeigt, das er, wie Baldassare mir erzählt hatte, das ›Credo der Humanitas‹ nannte?
Während ich Domenico mit einem Ringkuss begrüßte, strömten die Senatoren und Prokuratoren an Bord. Der Doge nahm auf seinem Thronsessel am Heck der Galeere Platz.
Kommandos wurden gebrüllt, Seile losgemacht, Ruder ins Wasser getaucht.
Baldassare und ich lehnten nebeneinander an der Bugreling, als das Schiff ablegte. Tristan war in ein offenbar sehr ernsthaftes Gespräch mit Leonardo Loredan vertieft. Als er bemerkte, dass ich zu ihm hinübersah, lächelte er. Da wandte ich mich wieder um und sah mit Baldassare hinaus auf die türkisfarbene Lagune.
Durch den Bacino di San Marco, den Hafen von Venedig, wurde die Galeere des Dogen zum Lido hinübergerudert. In feierlicher Prozession begleiteten Hunderte prächtig geschmückter Boote und bunt bemalter Gondeln den Bucintoro an der Riva degli Schiavoni entlang zur Vermählung mit dem Meer.
»Welch ein Anblick!« Baldassare bestaunte die großen Kriegsgaleeren und Handelsschiffe, die im Hafen zwischen San Giorgio Maggiore, der Giudecca und dem Canal Grande ankerten. »Venedig ist die Königin der Meere.«
»Die Serenissima ist eine tragische Schönheit«, erwiderte ich. »Der Krieg gegen den Papst, den Kaiser und den König von Frankreich, das Interdikt, die fallenden Gewürzpreise, die Flüchtlinge von der Terraferma, der Hunger und die Pest – all das hat Venedig in den letzten Jahren überstanden. Doch die Königin der Meere versinkt jedes Jahr tiefer in die Lagune. Sie stirbt, wie sie gelebt hat: großartig und stolz.«
»Venedig versinkt im Meer, und Rom erhebt sich aus seinen Ruinen«, versuchte er erneut, mich in die Ewige Stadt zu locken.
Während wir die Ostspitze der Insel umrundeten, betrachteten wir San Pietro di Castello, die Bischofskirche des Patriarchen. Wenig später erreichte das Dogenschiff den Lido und das offene Meer, das silbern im Sonnenlicht glitzerte.
Von Osten fegten die düsteren Sturmwolken heran. Über dem Horizont zuckten die ersten Blitze. Der ferne Donner übertönte die Glocken von San Marco, deren Klang über die Lagune wehte.
Die Boote und die geschmückten Gondeln waren der Galeere des Dogen gefolgt – manche von ihnen so nah, dass ihre Ruder die Ruderer des Bucintoro behinderten.
Leonardo Loredan erhob sich nun von seinem Thron und
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