Die ewige Straße
anderen nach etwas, womit sie den jetzt wieder offenen zweiten Schacht abdichten können. Claver versuchte eine Tischplatte vor die Öffnung zu halten, doch das funktionierte nicht.
»Wir müssen eins der Bücher benutzen«, sagte Flojian schließlich.
Claver nickte. »Schnell. Aber nimm eins, das aller Wahrscheinlichkeit nach keinen praktischen Wert besitzt.«
Sie fanden einen Folianten, der bereits beschädigt war, eine Biographie über eine Person, von der noch nie jemand gehört hatte: Merejowskys Leben und Werk des Leonardo da Vinci. Quait kletterte auf einen Stuhl und rammte es in den Schacht, bis es ganz dicht saß, und dann kauerten sie sich wieder beieinander und lauschten dem Gurgeln der steigenden Flut.
Das Wasser erreichte Chakas Schultern.
Dann ihren Unterkiefer.
Flojian war bereits auf einen der Schränke geklettert. Sie gesellte sich zu ihm, aber sie blieb im Wasser, weil es so wärmer war.
Claver starrte auf die Bücher. Sie waren auf Tischen gestapelt, die nur noch zwei Fuß über das Wasser ragten. Er stellte die Lampe auf einen Stapel und machte sich daran, etwas zu suchen, womit er den Anstieg des Wasser messen konnte. Quaits Geländerstück lehnte an einer Wand.
Claver ging es holen, richtete es gerade auf und ritzte den Wasserstand mit einem Messer hinein. Es reichte ihm inzwischen bis zum Schlüsselbein.
Quait watete zu Chaka. »Alles in Ordnung?« fragte er.
Sie nickte. »Den Umständen entsprechend.«
Niemand redete viel. Nach einer Weile erlosch die Lampe, und sie befanden sich in völliger Dunkelheit. Für Chaka war es die angstvollste Zeit ihres Lebens.
Doch ein paar Minuten später drang Clavers Stimme durch die Stille. »Ich glaube, wir schaffen es! Das Wasser steigt zwar noch, aber nur sehr langsam.«
»Bist du sicher?« fragte Flojian zweifelnd und doch voller Hoffnung.
»Ja«, erwiderte Claver. »Absolut sicher.«
Chaka stieß einen erleichterten Schrei aus und umarmte jeden ihrer Gefährten. Das Wasser schien mit einem Mal wärmer geworden zu sein. Sie planschten und jubelten, bis Claver warnend meinte, daß die Bücher naß werden könnten.
»Scheiß auf die Bücher!« rief Quait. »Wir sehen das Tageslicht wieder!«
Epilog
Abraham Polk beschreibt die Seuche als einen Virus, der durch die Luft übertragen wurde. Niemand hier weiß genau, was er damit gemeint hat, doch sein Bericht über die letzten Tage ist bildhaft genug, um die Natur der Seuche deutlich zu machen.
Sie war ein Produkt der Regenwälder. Polk ist zu dem Schluß gekommen, daß der Virus eine Art Schutzmechanismus gewesen ist, ausgelöst durch ein nicht mehr kontrollierbares Bevölkerungswachstum und das unaufhaltsame Vordringen der Menschen in die letzten Wälder der Erde.
Wir erwarten, daß es noch gut zehn Jahre dauern wird, bis vollständige Kopien der aus Haven geborgenen Texte in den öffentlichen Bibliotheken von Brockett und den Städten der Liga verfügbar sind. Der Fund aus fast dreihundertfünfzig geschichtlichen Werken, Kommentaren und Betrachtungen hat den offiziellen Namen Silas-Glote-Sammlung erhalten.
Bis heute wurden etwa fünfzig Bände kopiert und der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die restlichen Bände, die zur Zeit restauriert, erforscht und/oder kommentiert werden, können von anerkannten Gelehrten zu Forschungszwecken eingesehen werden.
Sowohl auf dem Hudson als auch auf dem Mississippi haben kohlebefeuerte Dampfschiffe Einzug gehalten. Der Seeweg zwischen Brockett und der Liga gewinnt nach und nach an Bedeutung. Der Handel nimmt nur langsam zu, weil die zu bewältigenden Entfernungen riesig und die Ligaprodukte nur unter Schwierigkeiten auf dem Landweg zur Mündung des Mississippi zu schaffen sind.
Aber die Fortschritte sind nicht zu übersehen, und Orin Claver hat seine beträchtlichen Fähigkeiten ganz der Aufgabe gewidmet, eine offene Wasserstraße von den Ligastädten bis hin zum Golf zu schaffen. Seine Lösungsvorschläge beschränken sich allerdings bis zum heutigen Tag in erster Linie auf den Kanalbau.
Flojian hat eine lukrative und ausfüllende Tätigkeit als Clavers Manager angetreten und sich in Brockett niedergelassen.
Seine Vorhersage, daß die Keile eines Tages Feuerwaffen verdrängen könnten, scheint aus zwei Gründen nicht einzutreffen: Erstens entzieht sich die Technologie ihrer Herstellung jeder Untersuchung durch unsere Experten, und zweitens fehlt dem Keil die Autorität, die einem Gewehr oder einem Revolver innewohnt.
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