Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
identifizieren, hilft uns das häufig, zum Kern des Geschehens vorzudringen und ihn vom Nebensächlichen abzugrenzen.
Natürlich besteht ein Risiko, dass dieser Ansatz uns auf falsche oder oberflächliche Gemeinsamkeiten stoßen lässt. Wenn wir das Schmelzen von Eis mit dem Verdampfen von Wasser vergleichen, fällt uns dabei für beide Übergänge eine äußerliche Veränderung auf – flüssiges Wasser sieht ganz anders aus als Eis, und Dampf sieht anders aus als flüssiges Wasser. Doch obwohl beide Übergänge eine äußerliche Veränderung aufweisen, würden wir dieses gemeinsameMerkmal kaum als erklärendes Prinzip bezeichnen. Eher handelt es sich um eine Beschreibung als um eine Erklärung, denn ein unterschiedliches Äußeres liefert uns keinerlei mechanistischen Einblick in das Geschehen. Genauso dürfen wir bei der Bestimmung einheitlicher Prinzipien für die Wandlungsprozesse des Lebens auf keinen Fall zum Selbstzweck nach Gemeinsamkeiten suchen. Aufzeigen müssen wir ähnliche mechanistische Elemente und Wechselwirkungen, wenn sie denn existieren. Und natürlich hätte ich nicht angefangen, dieses Buch zu schreiben, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es solche Elemente gibt und dass sie uns ein tieferes Verständnis der Grundlagen für die Wandlungsprozesse des Lebens verleihen können.
Um die Gemeinsamkeiten klarer werden zu lassen, verwende ich eine Reihe von Begriffen, die sich auf alle Wandlungsprozesse des Lebens anwenden lassen. Manche Themen werden daher unter etwas ungewöhnlichen Überschriften präsentiert. In diesem Kapitel etwa fällt das Thema der Erblichkeit unter das Prinzip der Persistenz, und das Thema der Vermehrung von Organismen gehört zum Prinzip der Verstärkung. Die Bezeichnung für jedes Prinzip hat dabei sowohl eine allgemeine als auch eine spezifische Bedeutung. Das entspricht etwa der Vieldeutigkeit von Begriffen wie »Komposition«. Von der Komposition kann in Bezug auf die verschiedensten Dinge die Rede sein, etwa bei Gemälden, Musik oder Dichtung. In jedem Fall geht es bei der Komposition um ein Gesamtarrangement; was aber arrangiert wurde, ist in jedem Einzelfall verschieden – die Farben auf einer Leinwand, die Töne in der Musik oder die Anordnung von Wörtern. Ähnlich werden wir feststellen, dass jedes unserer sieben Prinzipien für die Wandlungsprozesse des Lebens sowohl eine allgemeine als auch eine spezifische Bedeutung hat.
Auf der Suche nach den gemeinsamen Grundlagen zerpflücke ich gelegentlich auch Komponenten, die häufig zusammen betrachtet werden. Diese Trennung trägt zur Klärung bei, welche Rolle jede Komponente spielt, und deckt Prinzipien auf, die manchmal ignoriert oder schlicht als gegeben vorausgesetzt werden. In diesem Kapitel zum Beispiel unterteile ich den Begriff, dass sich Organismen über die Kapazität der Umwelt hinaus vermehren, in zwei miteinander wechselwirkenden Prinzipien: Verstärkung und Wettbewerb. Und im nächsten Kapitel begegnen wir Prinzipien wie dem kombinatorischen Reichtum und der Rekurrenz, die üblicherweise nicht explizit als Parameter der Evolution gelten. Die Kombination von sieben aufeinander einwirkenden Parametern, die ich als Formel des Lebens bezeichne, wird nirgends sonst als Erklärung für die Wandlungsprozesse des Lebens herangezogen. Dabei präsentiere ich keine neuen Grundtheorien für Einzelfälle. Zu den Prinzipien und Wechselwirkungen, die ich beschreibe, bin ich vielmehr gekommen, weil meine Perspektive alle Wandlungsprozesse gemeinsam betrachtet und nicht jeden für sich.
Um eine Einschätzung vom Allgemeinen zu erhalten, müssen wir zunächst das Besondere verstehen. Die Evolution dient uns dabei als Ausgangspunkt, denn sie stellt gleichsam die Matrix für alle anderen Wandlungsprozesse des Lebens dar. In diesem Kapitel behandele ich die ersten vier Prinzipien der Evolution, die den Kern der natürlichen Selektion darstellen. Die anderen drei Prinzipien werden im nachfolgenden Kapitel behandelt.
DAS PRINZIP DER POPULATIONSVARIABILITÄT
Im Roulette kann man sich seines Gewinns nie sicher sein. Setzt man auf Rot, erwartet man zwar, etwa jedes zweite Mal zu gewinnen; aber für jedes einzelne Spiel lässt sich keinerlei Vorhersage treffen. Die Gewinnchance beträgt eigentlich etwas weniger als 50 Prozent, weil es außer den 18 roten und 18 schwarzen Fächern im Roulettekessel noch ein grünes Fach für die Null gibt, für das der Gewinn an das Casino geht (im amerikanischen Roulette gibt es zwei
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