Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
eingebettet und illustrieren damit, wie eine Ausformung der Formel des Lebens eine andere umrahmen kann (Kapitel 10).
Schließlich kommen wir zum kulturellen Wandel (Kapitel 11 und 12). Obwohl er unter den Wandlungsprozessen des Lebens wohl den komplexesten darstellt, fühlen wir uns damit am vertrautesten, weil wir alle aktive Mitglieder der Gesellschaft sind. So lassen sich viele altbekannte Faktoren identifizieren, die am kulturellen Wandel mitwirken, etwa menschliche Kreativität, charismatische Personen, Machtkämpfe, die wirtschaftliche Entwicklung und Veränderungen in der Umwelt. Das alles fällt in Fachgebiete von Geschichte, Soziologie und Ökonomie, und es mag so aussehen, als hätte die Biologie hier nicht viel beizutragen. Und doch lässt sich mithilfe der Formel des Lebens auch der kulturelle Wandel aus einer weiteren Perspektive betrachten. Statt ihn als isolierten Prozess zu sehen, der einen unüberwindbaren Graben zwischen den Menschen und seine tierischen Verwandten zieht, werden wir feststellen, dass er formal wie historisch mit den anderen Prozessen verbunden ist. Kultureller Wandel ist eine vierte Ausformung der Formel des Lebens, und zwar eine, die auf den anderen drei aufbaut und sie alle integriert.
Wir werden für diese Darstellung einen weiten Blickwinkel benötigen, zugleich aber wissenschaftlich einwandfrei argumentieren müssen. Deshalb schrecke ich gelegentlich nicht vor wissenschaftlichen Details zurück, versuche sie aber immer so darzustellen, dass sie einem breiten Publikum verständlich bleiben. Leser mit wenig oder gar keiner naturwissenschaftlichen Vorbildung möchte ich ermuntern, an verzwickten Stellen trotzdem weiterzulesen, denn die Grundprinzipien bleiben immer dieselben und werden mit der Zeit einleuchten. Auch Leser mit solideren wissenschaftlichen Grundkenntnissen werden dieses Buch hoffentlich mit Gewinn lesen, weil hier ganze Teilgebiete der Naturwissenschaft aus einer neuen, einheitlichen Perspektive heraus betrachtet werden. Ein Fachmann aus einem dieser Gebiete wird vielleicht bemängeln, dass sie sehr selektiv behandelt sind. Das aber ist unvermeidlich, weil wir ja viele Disziplinen und ihre Verbindungen abdecken wollen – ich hoffe also, dieser Leser wird mir meine zahlreichen Auslassungen verzeihen.
Zur besseren Verständlichkeit werde ich die menschliche Kreativität auch in den naturwissenschaftlichen Abschnitten nicht außen vor lassen, sondern sie im ganzen Buch immer wieder aufgreifen. Zur Illustration der Prinzipien, Themen oder Gedanken, die ich vorstelle, werde ich häufig auf Werke der bildenden Kunst zurückgreifen. Die Gemälde liefern uns einen visuellen Ansatzpunkt und erinnern uns zudem daran, wie viele Perspektiven auf die Dinge möglich sind. Gegen Ende des Buches schließlich werden die künstlerischen und naturwissenschaftlichen Themen zusammenfinden. Dann haben wir bewiesen, dass Evolution, biologische Entwicklung, Lernen und Kultur einen großen Kreislauf bilden, eine Abfolge aufeinander bezogener Wandlungen, über die die Formel des Lebens auf sich selbst zurückblicken kann.
KAPITEL 1
SCHLEIFEN UND KUGELN
Die Äpfel, die wir heute essen, sind nicht dieselben, die in der Wildnis wachsen. Alle gezüchteten Apfelbäume gehen wahrscheinlich auf natürliche Bestände des Malus pumila in der Region Tian Shan in Zentralasien zurück. 8 Diese Wildapfelbäume tragen Früchte, die von großen Säugetieren wie Bären gefressen werden, die den Samen über ihren Kot verbreiten. Durch Generationen menschlicher Zucht und Selektion wurden Apfelbäume so verändert, dass ihre Früchte immer besser zu unserem Geschmack und unseren Speiseplänen passten. Darwin postulierte, dass für die Herausbildung aller Erscheinungsformen des Lebendigen ein analoger Prozess verantwortlich ist, in dem Nachkommen jeweils modifizierte Merkmale tragen. Doch während die Zucht von Apfelbäumen von der künstlichen Selektion durch den Menschen abhängt, identifizierte Darwin eine Form der Selektion, die sich automatisch vollzieht, ohne dass der Mensch eingreift: den Prozess der natürlichen Selektion.
Apfelbäume produzieren sehr viel mehr Äpfel und Samen, als jemals zu fortpflanzungsfähigen Bäumen heranwachsen können. In der Wildnis findet also ein stetiger Wettkampf darum statt, welcher Samen sich am Ende durchsetzt. Stellen wir uns etwa vor, dass in einem Wildbestand von Apfelbäumen einige Exemplare, sagen wir ein Prozent des Bestandes, Äpfel produzieren, die
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