Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
rechten Hüfte. Der Mann in der Tür trug ein halb aufgeknöpftes Hemd und starrte die uniformierten Polizisten geistesabwesend an.
«Ein Krankenwagen ist nicht nötig.»
Die beiden Beamten wechselten einen kurzen Blick. Der Mann in der Tür stand eindeutig unter Schock. Und schockierte Menschen reagierten oft nach ganz eigenen Regeln. Unvorhersehbar. Unlogisch. Der Mann wirkte zwar ziemlich niedergeschlagen und kraftlos, aber sie wollten auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Lindman setzte seinen Weg fort, Holst verlangsamte seine Schritte und behielt die Hand an der Dienstwaffe.
«Richard Granlund?», fragte Lindman, während er die letzten Schritte auf den Mann zutat, der einen Punkt irgendwo schräg hinter ihm fixierte.
«Ein Krankenwagen ist nicht nötig», wiederholte der Mann mit tonloser Stimme. «Die Frau am Telefon hat gesagt, sie würde einen Krankenwagen schicken. Das ist nicht nötig. Das hatte ich vorhin vergessen zu sagen …»
Jetzt war Lindman bei dem Mann angekommen. Er berührte ihn leicht am Arm. Der Körperkontakt ließ den Mann zusammenzucken, dann wandte er sich dem Polizisten zu und sah ihn mit erstauntem Gesichtsausdruck an, als sähe er ihn gerade zum ersten Mal und würde sich darüber wundern, wie er ihm so nah hatte kommen können.
Kein Blut auf Händen oder Kleidern, registrierte Lindman.
«Richard Granlund?»
Der Mann nickte.
«Ich kam nach Hause, und sie lag da …»
«Wo sind Sie denn gewesen?»
«Bitte?»
«Von wo kamen Sie? Wo sind Sie vorher gewesen?» Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt, um den Mann zu befragen, da er so offensichtlich unter Schock stand. Aber es konnte hilfreich sein, wenn man die Aussagen bei der ersten Begegnung mit jenen aus einem möglichen späteren Verhör vergleichen konnte.
«Deutschland. Geschäftlich. Mein Flug hatte Verspätung. Beziehungsweise … der erste wurde gestrichen, der zweite war verspätet, und dann kam ich sogar noch später, weil mein Gepäck …»
Der Mann verstummte. Anscheinend war ihm ein Gedanke oder eine Einsicht gekommen. Er sah Lindman mit einer plötzlichen Klarheit in den Augen an.
«Hätte ich sie retten können? Wenn ich pünktlich gekommen wäre, hätte sie dann noch gelebt?»
Diese Was-wäre-wenn-Überlegungen waren eine natürliche Reaktion bei Todesfällen. Lindman hatte sie schon oft gehört. Er hatte häufig erlebt, dass Menschen starben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Sie liefen genau in dem Moment auf die Straße, in dem ein betrunkener Autofahrer angerast kam. Sie schliefen genau in jener Nacht im Wohnwagen, in dem die Gasflasche zu lecken begann. Sie überquerten in dem Augenblick die Gleise, in dem der Zug kam. Herabfallende Stromleitungen, betrunkene Schläger, Autos auf falschen Straßenseiten. Höhere Gewalt, Zufälle. Durch einen vergessenen Schlüsselbund konnte man sich exakt um jene Sekunden verspäten, deretwegen man dann den unbewachten Bahnübergang überquerte. Wegen eines verspäteten Fluges konnte es sein, dass die Frau lange genug allein zu Hause war, damit der Mörder zuschlagen könnte. Die Was-wäre-wenn-Überlegungen.
Ganz natürlich bei Todesfällen, aber schwer zu beantworten.
«Wo ist Ihre Frau, Herr Granlund?», fragte Lindman also stattdessen mit ruhiger Stimme. Der Mann in der Tür schien über die Frage nachzudenken. Er war gezwungen, sich von den Reiserlebnissen und der eventuellen Schuld, die ihm so plötzlich auferlegt worden war, ins Hier und Jetzt zurückzubegeben. Dem Grauen ins Auge zu sehen.
Dem, was er nicht hatte verhindern können.
Schließlich war er so weit.
«Da oben.» Richard zeigte schräg hinter sich und begann zu weinen.
Lindman bedeutete seinem Kollegen mit einem Nicken, dass er nach oben gehen solle, während er selbst dem weinenden Mann ins Haus folgte. Natürlich konnte man nie sicher sein, aber Lindman hatte das Gefühl, dass der Mann, den er gerade an den Schultern fasste und in die Küche schob, kein Mörder war.
Am Fuß der Treppe zog Holst seine Dienstwaffe und hielt sie mit ausgestrecktem Arm nach unten. Wenn der gebrochene Mann, um den sich sein Kollege kümmerte, nicht der Mörder war, bestand immerhin ein geringes Risiko, dass sich der wahre Täter noch im Haus aufhielt. Oder die Täterin – auch wenn das eher unwahrscheinlich war.
Die Treppe führte in einen kleineren Raum. Dachfenster, ein Zweisitzer, Fernseher und Blu-ray. Regalwände mit Büchern und Filmen. Von dort gingen vier Türen ab, zwei
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