Die Galerie der Lügen
Susans Miene war ernster, als es ein Wiedersehen nach Monaten erwarten ließ.
In Alex regte sich ein schlechtes Gewissen. Ihre Freundin hatte in den letzten Wochen zwei oder drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie waren wie viele weitere angehört und wieder vergessen worden. Inzwischen ging auf dem Gerät der Speicherplatz zur Neige. Das neue Projekt hatte Alex mit Haut und Haaren verschlungen.
»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte sie reumütig.
Die Reporterin verzog die Mundwinkel zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. Sie hatte rotblondes Haar, ein rundes Gesicht voller Sommersprossen und, wie sie nicht oft genug betonen konnte, einige Pfunde zu viel auf den Rippen. Alex, eher der schlanke, drahtige Typ, bewunderte sie ob ihrer Weiblichkeit.
»Mit solchen Situationen konnte ich noch nie umgehen«, erklärte Susan.
»Du könntest sagen: › Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung . ‹ Würde sich auch gut in deinem Artikel machen.«
»Das ist nicht der Grund, warum ich mich so blöd anstelle. Es geht um den Autounfall.«
Das Wort ließ Alex erschauern. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunglück ums Leben gekommen. Seitdem hatte sie keine Angehörigen mehr. Sie war allein.
Susan musste die fragende Miene ihrer Freundin bemerkt haben, denn rasch fügte sie hinzu: »Bestimmt ist es nur ein dummer Zufall, aber die Ähnlichkeit…« Sie breitete die Arme aus und schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wovon du sprichst«, sagte Alex.
Die Reporterin wirkte erleichtert. »Im ersten Moment hatte ich gedacht, du seist gegen die Mauer gerast. Aber dann war da der andere Name. Kommt ja vor, dass einer die Papiere von jemand anderem in der Tasche hat. Ich rief bei dir an, aber du bist nicht ans Telefon gegangen…«
»Susan«, unterbrach Alex die aufgeregte Freundin. »Ich verstehe kein Wort von dem, was du da redest.«
Ein brüchiges Lächeln erschien auf Susans Gesicht. »Entschuldige, aber… du hast nicht zufällig eine Zwillingsschwester?«
»Ich habe überhaupt keine Geschwister.«
»Ja, aber… schau selbst.« Susan hievte ihre ausgebeulte Umhängetasche aus schwarzem Kunststoff vom Boden hoch, stellte sie auf ihre Oberschenkel, kramte einige Sekunden darin herum und förderte schließlich eine zusammengefaltete Zeitungsseite zu Tage. Sie legte das Blatt vor Alex auf den Tisch. »Schreckliche Sache. Ist ungefähr drei Wochen her. Der Mirror hatte über den Unfall berichtet. War eine von den Storys, die er gerne bis zum letzten Blutstropfen ausschlachtet. Wundert mich, dass du nichts davon weißt.«
»Ich lese den Daily Mirror nicht. Schon vergessen?«
»Die Schmuddelpresse – ich weiß. Was glaubst du, warum ich sogar in meiner Freizeit an meinen Storys recherchiere und herumfeile? Irgendwann wird jemandem auffallen, dass Susan Winter was auf dem Kasten hat. Der Mirror ist nur eine Durchgangsstation.«
Alex nahm die Zeitungsseite vom Tisch und faltete sie auseinander. Als ihr Blick auf das Foto des Unfallopfers fiel, wurde sie kreidebleich.
Susan bemerkte die Reaktion. »Die Ähnlichkeit ist krass, nicht wahr? Ich hatte im ersten Moment echt geglaubt, das bist du. Ihr Name ist Terri Lovecraft. Ist mit ihrem Honda gegen einen der Pfeiler des Torhauses am Südeingang des Blackwall-Tunnels gerast. Du weißt schon, drüben in Ost-Greenwich. Die Zeugen sagen, der Wagen habe sofort Feuer gefangen. Ehe die Rettungskräfte eintrafen, war er total ausgebrannt. Man konnte nicht mal mehr erkennen, ob die Leiche Männlein oder Weiblein ist. Völlig verkohlt, die Ärmste. Soll ziemlich gestunken ha…«
»Ist ja schon gut!«, fiel Alex der Reporterin ins Wort. Ihre Augen waren geschlossen. Sie rang sichtlich um ihre Fassung.
»Entschuldige, Schatz. Man kann wohl nicht längere Zeit für ein Skandalblatt arbeiten, ohne irgendwie abzustumpfen. Alles in Ordnung mit dir?«
Alex nickte. Mit flimmernden Lidern öffnete sie wieder die Augen und blickte erneut auf den Artikel in ihren Händen. Ein farbiges Foto zeigte das ausgebrannte Autowrack rechts von der Tunneleinfahrt. Um an den Leitplanken vorbei gegen einen der achteckigen Türme des Torhauses zu rasen, benötigte man schon eine gehörige Portion Pech. Oder Verzweiflung. Alex war schon oft durch diesen steinernen Bogen gefahren, unter der Themse hindurch, um drüben in Poplar an der East India Dock Road wieder ans Tageslicht zurückzukehren.
Sie betrachtete noch einmal
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