Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
ihr Vater. Joséphine schloss die Augen, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und begann zu schreien.
»Was fällt dir ein, Hortense? Ich verbiete dir, in diesem Ton mit mir zu reden … Was glaubst du denn, wovon wir in den letzen Monaten gelebt haben? Ich will es dir sagen: von meiner Arbeit und dem zwölften Jahrhundert! Ob es dir gefällt oder nicht. Und ich verbiete dir, mich so anzusehen. Ich bin deine Mutter, vergiss das nicht. Deine Mutter! Und du wirst mich gefälligst … Du musst … Du schuldest mir Respekt.«
Sie verhaspelte sich, sie machte sich lächerlich. Eine neue Angst schnürte ihr die Kehle zu: Sie würde es nie schaffen, ihre beiden Töchter allein zu erziehen, ihr fehlte die nötige Autorität, diese Aufgabe würde sie vollkommen überfordern.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Hortense sie neugierig
musterte, als sähe sie sie zum ersten Mal, und was sie in den überraschten Augen ihrer Tochter las, war nicht dazu angetan, sie aufzumuntern. Sie schämte sich fürchterlich, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Ich darf nicht alles durcheinanderbringen, schärfte sie sich ein. Jetzt, wo sie nur noch mich zum Vorbild haben, muss ich mich auch entsprechend verhalten.
»Es tut mir leid, Liebes.«
»Das ist doch nicht schlimm, Maman. Du bist müde und mit den Nerven am Ende. Leg dich einen Moment hin, danach geht es dir bestimmt wieder besser …«
»Danke, Schatz, danke … Ich schaue jetzt erst mal nach Zoé.«
Nachdem sie zu Ende gegessen hatten und die Mädchen wieder zurück in die Schule gegangen waren, klopfte Joséphine bei ihrer Nachbarin Shirley. Sie hielt das Alleinsein schon jetzt nicht mehr aus.
Shirleys Sohn Gary öffnete die Tür. Er war ein Jahr älter als Hortense und ging in die gleiche Klasse wie sie, aber Hortense weigerte sich, mit ihm zusammen nach Hause zu kommen, weil er angeblich so schlampig herumlaufe. Wenn sie krank war und zu Hause bleiben musste, verzichtete sie lieber auf seine Unterrichtsnotizen, als ihm zu Dank verpflichtet zu sein.
»Musst du nicht zur Schule? Hortense ist schon weg.«
»Wir haben nicht die gleichen Wahlfächer, montags fang ich erst um halb drei wieder an … Willst du meine neueste Erfindung sehen? Schau mal.«
Er zeigte ihr zwei fusselige Tampons, die er aufeinander zubewegte, ohne dass sich die Fasern berührten. Es war seltsam: Jedes Mal, wenn sich ein Tampon dem anderen näherte und die weißen Wattefasern sich zu verheddern drohten, hielt er inne, begann zu schwingen und erst kleine, dann immer größere Kreise zu beschreiben, ohne dass Gary einen Finger zu rühren brauchte. Überrascht sah Joséphine ihn an.
»Ich habe ein Perpetuum mobile ohne umweltschädliche Energiequelle erfunden.«
»Das erinnert mich an ein Diabolo«, bemerkte Joséphine, um überhaupt etwas zu sagen. »Ist deine Mutter zu Hause?«
»In der Küche. Sie räumt ab …«
»Und du hilfst ihr nicht dabei?«
»Das will sie nicht. Ihr ist lieber, wenn ich Sachen erfinde.«
»Viel Glück dabei, Gary!«
»Du hast nicht mal gefragt, wie es funktioniert!« Er wirkte enttäuscht und schwenkte die Tampons wie zwei Fragezeichen. »Voll langweilig …«
In der Küche eilte Shirley geschäftig hin und her. Sie hatte eine große Halbschürze umgebunden, räumte die Teller vom Tisch, kratzte die Reste in den Mülleimer und ließ reichlich Wasser ins Becken laufen, während auf ihrem Herd, den köstlichen Düften nach zu urteilen, in großen gusseisernen Töpfen Kaninchen in Senfsauce und eine Gemüsesuppe vor sich hin köchelten. Shirley verwendete ausschließlich frische, naturbelassene Lebensmittel. Sie aß weder Konserven noch Tiefkühlprodukte, studierte gewissenhaft alle Informationen auf Joghurtbechern und erlaubte Gary lediglich ein chemisch verändertes Nahrungsmittel pro Woche, um ihn gegen die Gefahren der modernen Ernährung immun zu machen, wie sie sagte. Sie wusch ihre Wäsche mit Kernseife im Becken, breitete sie auf großen Handtüchern aus, um sie zu trocknen, schaute nur selten fern und hörte jeden Nachmittag BBC, ihrer Ansicht nach der einzige intelligente Radiosender, den es gab. Sie war eine große Frau mit breiten Schultern, kurzem, dichtem blondem Haar, großen goldbraunen Augen und sonnengebräunter Pfirsichhaut. Von hinten hielten die Leute sie für einen Mann und rempelten sie an, doch wer sie von vorn sah, trat respektvoll zur Seite, um sie vorbeizulassen. Halb Mann, halb Vamp, sagte sie oft mit einem
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