Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
soll ruhig weiterträumen«, sagte Hortense. »Bei mir hat der keine Chance. Ich will einen schönen Mann, einen starken Mann, und er muss genauso sexy sein wie Marlon Brando.«
»Wer ist Marlon Brando, Maman?«
»Ein berühmter amerikanischer Schauspieler, Schatz …«
»Marlon Brando! Sieht der Mann gut aus! Er hat in Endstation Sehnsucht mitgespielt, Papa hat mich in den Film mitgenommen … Er sagt, er sei ein Meisterwerk der Filmgeschichte!«
»Hmmm! Deine Fritten sind superlecker, Maman.«
»Übrigens, wo ist Papa eigentlich? Hat er einen Termin?«, fragte Hortense und wischte sich den Mund ab.
Der Moment, vor dem sich Joséphine gefürchtet hatte, war da. Sie schaute in die fragenden Augen ihrer älteren Tochter, dann auf Zoé, die den Kopf gesenkt hielt und sich ganz darauf konzentrierte, ihre Pommes frites in das über und über mit Ketchup bespritzte Eigelb zu tunken. Sie musste mit ihnen reden. Es half nichts, die Aussprache auf später zu verschieben oder sie anzulügen. Irgendwann würden sie ja
doch die Wahrheit erfahren. Es wäre besser, es ihnen einzeln zu sagen. Hortense hing sehr an ihrem Vater, sie fand ihn so »schick«, so »elegant«, und er tat alles, um ihr zu gefallen. Er hatte nicht gewollt, dass sie sich vor den Mädchen etwas von ihren finanziellen Schwierigkeiten oder ihrer Sorge vor einer ungewissen Zukunft anmerken ließen. Aber es war nicht Zoé, auf die er so viel Rücksicht nahm, sondern seine ältere Tochter. Ihre bedingungslose Liebe war das Einzige, was ihm von seinem früheren Glanz noch geblieben war. Hortense hatte ihm geholfen, seine Koffer auszupacken, wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, sie hatte den Stoff seiner Anzüge gestreichelt, die Qualität seiner Hemden gelobt, mit der Hand die Krawatten glatt gestrichen und sie sorgfältig nebeneinander in den Schrank gehängt. Du bist so schön, Papa! Du siehst so gut aus! Er genoss ihre Liebe, genoss ihre Schmeicheleien, nahm sie in die Arme und steckte ihr ein kleines Geschenk zu, nur für sie allein. Ihr kleines Geheimnis. Joséphine hatte sie häufiger bei ihrem verschwörerischen Getuschel überrascht. Sie fühlte sich von ihrer Vertrautheit ausgeschlossen. In ihrer Familie gab es zwei Kasten: die Herren, Antoine und Hortense, und die Vasallen, das waren Zoé und sie selbst.
Sie konnte nicht mehr zurück. Hortenses Blick war jetzt forschend und kalt. Sie erwartete eine Antwort auf ihre Frage.
»Er ist weg …«
»Und wann kommt er zurück?«
»Er kommt nicht mehr zurück … Zumindest nicht hierher.«
Zoé hatte den Kopf gehoben, und an ihrem Blick erkannte Joséphine, dass sie vergeblich zu verstehen versuchte, was ihre Mutter gerade gesagt hatte.
»Er ist weg … für immer?«, fragte sie, und ihr blieb vor Verwirrung der Mund offen stehen.
»Ich fürchte ja.«
»Dann ist er jetzt nicht mehr mein Papa?«
»Doch, natürlich bleibt er dein Papa! Aber er wird von jetzt an nicht mehr hier bei uns wohnen.«
Joséphine hatte Angst, furchtbare Angst. Sie hätte ganz genau sagen können, wo die Angst saß, hätte die Länge, die Breite, den Durchmesser dieses Barrens nennen können, der ihr Zwerchfell zusammenpresste
und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie hätte sich so gern in die Arme ihrer Töchter geflüchtet. Sie wünschte, sie würden sich alle drei umarmen und sich einen magischen Satz ausdenken, so wie den vom Großen Knick und vom Großen Knock. Sie wünschte sich so vieles: die Zeit zurückzuspulen, noch einmal die Melodie ihres Glücks zu spielen, ihr erstes Kind, die Rückkehr aus dem Krankenhaus, das zweite Kind, der erste Urlaub zu viert, der erste Riss, die erste Versöhnung, das erste vielsagende Schweigen, das mit der Zeit jenem Schweigen weicht, das nichts mehr ausdrückt außer Leere. Sie würde so gern verstehen, seit wann die Luft raus war, wann aus dem charmanten Jungen, den sie geheiratet hatte, Tonio Cortès geworden war, der müde, gereizte, arbeitslose Ehemann … Sie wünschte sich, die Zeit anhalten zu können und in die Vergangenheit zurückzukehren …
Zoé fing an zu weinen. Ihr Gesicht legte sich in Falten, verzerrte sich, verfärbte sich dunkelrot, und die Tränen begannen zu fließen. Joséphine beugte sich zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. Sie verbarg ihr Gesicht im weichen Haar des kleinen Mädchens. Sie durfte auf keinen Fall auch anfangen zu weinen. Sie musste stark und entschlossen bleiben. Musste den beiden zeigen, dass sie keine Angst hatte, dass sie sie
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