Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
traurig wie ich. Und ich hatte gerade fünf Jahre Zeit, um darüber hinwegzukommen. Also ist es jetzt meine Aufgabe, sie zu trösten.«
»Wie seltsam«, sagte Jonas. Er setzte sich auf eine der Schaukeln, stieß sich ab und ließ sich hin und her tragen.
Andrea kicherte.
»Sie glauben, meine ›neue Reife‹ komme bloß daher, weil ich in einem Altersheim in einem Großeltern-Adoptionsprojekt mitarbeite«, erklärte sie. »Ich verstehe mich dort blendend mit einem leicht senilen alten Herrn, der sich einbildet, aus der Vergangenheit zu kommen.«
»HK hat dir erlaubt, deinen echten Großvater ins einundzwanzigste Jahrhundert mitzunehmen?«, fragte Jonas verblüfft.
Andrea nickte.
»
Außerdem
hat er sämtliche Dorfbewohner in ein Naturschutzgebiet in der Zukunft umgesiedelt.«
»HK ist wirklich kaum wiederzuerkennen«, sagte Jonas, »ihm ist längst nicht mehr nur die Zeit wichtig.«
»Stimmt«, sagte Andrea. »Schwer zu sagen, wohin das alles führen wird.«
Sie setzte sich auf die Schaukel neben Jonas und wandte sich ihm zu.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Dass HK jetzt ein weiches Herz hat?«, fragte Jonas.
»Nein, dass wir nicht miteinander gehen, so wie Katherine und Chip«, sagte Andrea.
Jonas fiel fast von der Schaukel.
»Ich bin nicht Zwei«, sagte er. »Ich würde nie losziehen und Leute dazu bringen wollen, etwas zu tun, das sie gar nicht tun wollen.«
»Darum geht es nicht«, sagte Andrea. »Es gibt nur so viele andere Dinge, mit denen ich klarkommen muss. Ich war achtzehn, und jetzt bin ich wieder dreizehn; ich war Virginia Dare, und jetzt bin ich wieder Andrea Crowell. Ich war es gewöhnt, in den Wäldern zu leben, über offenem Feuer zu kochen und ein einziges Kleidungsstück zu besitzen, und jetzt muss ich mir wieder in Erinnerung rufen, wie mein iPod und mein Computer funktionieren. Ich will gar nicht davon reden, wie schwer es ist, sich zu merken, ob Klamotten von Hollister angesagter sind als die von Abercrombie & Fitch oder umgekehrt. Im Moment ist einfachalles viel zu seltsam, um an irgendetwas anderes zu denken.«
Das war die längste Aneinanderreihung von Sätzen, die Jonas je aus Andreas Mund gehört hatte.
»Meine Mom tut so, als müsse das Leben seltsam sein, wenn man ein Teenager ist«, sagte er mit einem Grinsen. »Aber ich glaube nicht, dass sie irgendwas in der Art gemeint hat.«
»Jonas … auch wenn wir nicht miteinander gehen … können wir doch immer noch zwei Menschen sein, die wissen, wie man zusammen mit seltsamen Dingen fertig wird«, sagte Andrea.
Komischerweise hörte sich das für Jonas wie eines der nettesten Dinge an, die man je zu ihm gesagt hatte.
»Hört sich gut an«, sagte er und gab sich große Mühe, locker und unbekümmert zu klingen.
Er war sicher, dass Andrea ihn trotzdem verstand.
Sie saßen eine Weile schweigend da, bis Andreas Tante kurz auf die Hupe drückte.
»Ich muss los«, sagte Andrea und überraschte Jonas mit einer kurzen Umarmung. »Aber ich rufe dich an oder wir schreiben uns per SMS oder skypen oder …«
Sie hatte den Park schon durchquert und stieg zu ihrer Tante ins Auto, als sie endlich fertig war, sämtliche Möglichkeiten aufzuzählen, über die sie in Verbindung bleiben konnten.
Dass sie jetzt nicht mit mir gehen will, muss ja nicht heißen, dass sie es auch später nicht will, dachte Jonas.
HK kam auf ihn zu, sobald Andrea und ihre Tante davongefahren waren.
»Du siehst glücklicher aus«, stellte er fest.
»Warum auch nicht?«, erwiderte Jonas. »Ich habe weder Skorbut noch Frostbeulen. Ich stecke nicht mitten in einer Meuterei. Niemand bedroht mich mit einem Messer, einer Pistole oder einem Schwert. Katherine und ich sind aus 1611 herausgekommen. Die Zeit ist nicht zusammengebrochen. Alle haben es aus 1605 herausgeschafft. Und Andrea hat nicht gesagt, dass sie
nie
meine Freundin werden will.« Er holte tief Luft. »Die Zukunft sieht ziemlich rosig aus, findest du nicht?«
»Schön, dass du es so sehen kannst«, sagte HK mit einem nachsichtigen Lächeln.
Muss ich mir Sorgen machen, weil er mir nicht völlig zugestimmt hat?, fragte sich Jonas. Doch er hatte sich im siebzehnten Jahrhundert so viele Sorgen gemacht, dass es für ein ganzes Leben reichte. Wenn ihn in der Zukunft – oder in der Vergangenheit – etwas Schlimmes erwarten sollte, dann wollte er es jetzt nicht wissen. Nicht solange die Sonne schien, er einen gefüllten Magen hatte und in absehbarer Zeit nicht in die Vergangenheit
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