Die Gezeiten von Kregen
Phu-si-Yantong hatte verfügt, daß ich nicht ermordet werden sollte; denn er gedachte mir in seinen üblen Plänen eine große Rolle zuzuweisen. Allerdings nahm er mich von Zeit zu Zeit in Augenschein. Nachdem ich nun einen eigenen Zauberer aus Loh hatte, fragte ich mich, ob sich für Bjanching nicht eine praktischere Verwendung finden ließ.
»Sag mir eins, San. Ist es möglich, diesen Vorstößen irgendwie zu begegnen?«
»Jawohl, Prinz«, antwortete er schnell. Offenbar zu hastig, denn sein Gesicht verdüsterte sich. Nach kurzem Überlegen sagte er: »Es hängt von der Stärke des Zauberers ab.«
»Der andere ist sehr mächtig. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, möchte ich meinen, er ist der stärkste Zauberer außerhalb Lohs, soweit ich es beurteilen kann.«
»Dann kann ich eine Gegenwehr errichten, die ihm das Arbeiten zumindest erschwert. Vielleicht gelingt es mir, ihn eine Zeitlang in die Irre zu führen. Danach ...«
»Er hat rein äußere Ziele. Er legt es doch tatsächlich darauf an, möglichst viele Länder und Nationen in seine Gewalt zu bringen. Ich finde, das schwächt ihn.«
Während dieses Gesprächs hatte San Evold leise vor sich hin gebrummelt und geschnieft. Jetzt platzte er heraus: »Ich bitte dich, bei Vox! Warum rufst du keine Armada zusammen und vernichtest ihn, mein Prinz?«
Ich lächelte. »Dazu müßten wir erst einmal wissen, wo er steckt und wie stark er ist. Mir ist bekannt, daß er sich mit zwei gefährlichen Männern verbündet hat: mit Vad Garnath aus Hamal, dessen Tod ganz Kregen zugute käme, und mit dem Kataki-Strom, der nun wirklich eine Personifizierung des Teufels sein könnte.«
»Katakis!« Khe-Hi-Bjanching schürzte die Lippen. »Mit denen ist nicht gut Kirschen essen, bei Hlo-Hli!«
»Dann mach dich sofort an die Arbeit, San. Setz dich mit meinem Kammerherrn Panshi in Verbindung; er soll dich voll unterstützen. Ich möchte keine weiteren Besuche dieser Art erleben. Vielleicht kommt Phu-si-Yantong eines Tages nicht nur zum Beobachten.« Ich wandte mich an Evold. »San Evold, du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du San Khe-Hi nach besten Kräften hilfst.«
Evolds fleckiger alter Mantel bebte. Wieder nieste er. Trotzdem brachte er ein »Gern, mein Prinz« zustande. Ich konnte ihm vertrauen; er würde Bjanching im Auge behalten, bis ich mir über die Fähigkeiten des jungen Zauberers aus Loh wirklich klar geworden war.
Die beiden entfernten sich durch den langen Gemäldesaal in Richtung des großen Raums, der San Evold als Laboratorium diente. Erfreut stellte ich fest, daß sie ihren Streit bereits vergessen hatten und sachlich miteinander diskutierten – auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Vorstöße jenes geheimnisvollen Zauberers von Loh abzuwehren.
Ich seufzte. Wahrlich, ich konnte Zair für meine Freunde und Begleiter danken!
Dieser Gedanke brachte mich auf meinen guten Freund Seg Segutorio, der mit seiner Frau Thelda in seine Grafschaft Erthyrdrin geflogen war. Als Kov von Vallia hatte er seine Pflichten, ebenso wie Inch, dessen Gesellschaft ich ebenfalls vermißte, und der sich in den Schwarzen Bergen Vallias aufhielt.
Ich verdrängte diese Gedanken und machte mich auf die Suche nach Balass dem Falken und meinem ältesten Sohn Drak. Während seine Zwillingsschwester Lela von Delia erzogen wurde, war unser Sohn meine Verantwortung. Im Gegensatz zu vielen Vätern in ähnlicher Position hatte ich darauf verzichtet, ihn mit Titeln und Ehrungen zu überhäufen; er mußte sich mit dem Rang eines Amak zufriedengeben; er war Amak der kleinen Insel Vellendur im Norden Valkas.
Balass der Falke, ein wilder Hyr-Kaidur, führte Drak in die tieferen Geheimnisse der Schwertkunst ein, wie er sie sah. Er hatte mit mir in der Arena von Hyrklana gestanden und war ein hervorragender Gladiator. So kannte er sich mit Schwert und Schild bestens aus. Für andere Kampfarten hatte ich andere Freunde und Lehrer am Hof von Valka.
Ich ging die Treppe zu der ummauerten Sandarena hinab, in der Balass mit dem Jungen trainierte. Plötzlich blieb ich stehen und blickte in die grellen Strahlen der Doppelsonne.
Ein Schock durchfuhr mich.
Vor der zweifarbigen Strahlung schwebte ein dunkler Schatten. Ich machte breite Flügel, einen gedrungenen Kopf und stark gekrümmte Krallen aus. Der Raubvogel hatte nicht die Gestalt oder Größe eines Flutduins, des hervorragenden Flugvogels, der sich langsam auch in Valka durchsetzte. Es handelte sich vielmehr um ein Tier, das ich
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