Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
internationalen oder einer nichtstaatlichen Organisation ein oder zwei Jahre nach Kriegsende in einem bosnischen Dorf stattfand und dazu dienen sollte, das Gespräch zwischen den Volksgruppen wieder zu ermöglichen. Die Veranstalter waren vom Geschehen sehr betroffen, und kaum jemand der in Sarajevo arbeitenden Internationalen dürfte davon im nachhinein nicht erfahren haben. Das Gespräch sei langsam und vorsichtig in Gang gekommen, die Gratwanderung zwischen verletztem Schweigen einerseits und Haßausbrüchen andererseits sei zunächst gelungen. Kurz vor Ende der Veranstaltung habe sich dann ein Mann zu Wort gemeldet, |25| auf den Knien seinen vier oder fünf Jahre alten Sohn. Nach der Schilderung, was seiner Familie durch Freischärler einer anderen Ethnie während des Krieges angetan worden sei, habe er sinngemäß folgendes erklärt: Er werde nie aufhören, seinem Sohn jeden Tag zu erklären, daß er einem Angehörigen dieser anderen Ethnie nie vertrauen dürfte, in keiner Lebenslage, und er werde dem Sohn in sein Erwachsenenleben die Pflicht mitgeben, sich, wann immer er könne, an beliebigen Angehörigen dieser Ethnie zu rächen, so wie es auch seine eigene, des Vaters, Pflicht bleibe, dies zu tun. Vater und Sohn hatten dem Gespräch zuvor ruhig zugehört, nach dieser Deklaration die Veranstaltung dann verlassen. Es muß nicht sein, daß dieser Mann einige Jahre später noch dasselbe denkt. Manchmal bilden derartige Deklarationen auch den Kulminationspunkt im Verarbeitungsprozeß und können ein Umdenken einleiten. Aber auch dies war eine Nachkriegsrealität, und es ist nicht auszuschließen, daß solche Reden heute noch geführt werden.
Dies war die Situation, in welcher sich die Bevölkerung Bosniens unmittelbar nach dem Krieg befand. Bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt waren die Menschen von einer »monolithischen« Identität aufgrund ethnischer Kriterien geprägt. 6 Dies bedeutet, daß das erste oder sogar das einzige Kriterium zur Beurteilung einer Person oder einer Situation in der Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit des oder der Beteiligten besteht. Als außenstehende Person zu meinen, man hätte in einer analogen Situation wahrscheinlich anders reagiert, ist völlig vermessen: Staatliche Institutionen wie Ortsverwaltungen, überhaupt Verwaltungsstellen jeglicher Art, Polizeikräfte oder die Armee im üblichen Sinne gab es vielerorts seit langem nicht mehr. Alle diese Funktionen waren nicht nur kriegsbedingt aus den Angeln gehoben, sondern sie waren – wenn es sie gab – ethnisch zugeordnet: Insbesondere die Armee-Einheiten identifizierten sich mit den Ethnien und hatten die anderen Ethnien teils aufs grausamste bekämpft. Polizeieinheiten waren ethnisch zugeordnet, Angehörige einer anderen Volksgruppe konnten nicht auf deren polizeilichen Schutz |26| hoffen, sondern sie mußten Übergriffe dieser Einheiten auf Leib, Leben und Eigentum befürchten. Verwaltungsstellen bestanden – wenn sie überhaupt funktionierten – im Prinzip aus Angehörigen einer einzigen Ethnie und agierten entsprechend, einerseits zum Schutze der eigenen Ethnie und andererseits zur Abwehr der anderen Ethnien. In dieser Situation erlangten Sippen und Familienclans Machtpositionen, wobei in diesem System nur monoethnische Clans eine Chance hatten, diese aber eine um so größere. Auch die meisten Wirtschaftsbeziehungen wickelten sich in solchen Strukturen ab, oft mafiamäßig entlang ethnischer Gruppen organisiert. Möglichst genaue Kenntnis all dieser Strukturen war während und unmittelbar nach dem Krieg für viele eine Frage des Überlebens. Wenn man solche Strukturen kannte und nutzte, hieß dies jedoch keineswegs, daß man die ethnische Sichtweise unterstützte.
Die ethnische Brille
Andere Identitätsmerkmale als jene der Herkunft waren im Nachkriegs-Bosnien durch die Macht der Geschehnisse gleichsam weggefegt worden. Es war, als hätte man allen Leuten eine Brille aufgesetzt, welche das ganze Gesichtsfeld in blauem, rotem oder gelbem Licht erscheinen läßt, und dies entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit. Nicht nur die Personen auf der Straße werden dann plötzlich rot, blau oder gelb getönt, nicht nur die Häuser, in denen sie wohnen, sondern es geht sogar noch weiter: Der Baum im Garten des Nachbarn ist nicht mehr grün, sondern er ist blau, solange Haus und Garten vom Angehörigen einer bestimmten Ethnie genutzt werden, und wenn dieser wegzieht und ein Angehöriger einer anderen Ethnie
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