Lockende Versuchung
1. KAPITEL
Oktober des Jahres 1742
„Liebe Gemeinde.“ Die hohe, fast pfeifende Stimme des Kuraten hallte im Gewölbe der leeren Kirche St. Martin im Felde, eine bei der eleganten Welt Londons derzeit bevorzugte Andachtsstätte. „Wir sind hier im Angesicht Gottes versammelt, um diesen Mann und diese Frau in den heiligen Bund der Ehe zusammenzufügen, einen ehrenwerten Stand …“
Einen ehrenwerten Stand? Julianna Ramsay konnte ein bitteres Lachen nur mühsam zurückhalten. Ein Bund – oder besser eine Bindung – sicherlich . Am liebsten hätte sie dem Geistlichen das Gebetbuch aus den plumpen Fingern gerissen und durch eines der hohen Fenster hinter dem Altar geschleudert.
„Wenn einer unter euch ist, der ernsthafte Gründe gegen diese Eheschließung vorzubringen hat, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“
Hart schloss sich Jeromes derbe Hand um Juliannas schlanken Arm. Zornig streifte sie den von der durchzechten Nacht noch deutlich gezeichneten Stiefbruder mit einem raschen Seitenblick. In seinen dunklen Augen spiegelte sich die ganze Bosheit und Mitleidlosigkeit seiner Seele wider.
Er schien ihren Blick zu spüren, denn seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. Nur immer zu, Schwester , schien er sagen zu wollen, gönne dir ruhig einen hysterischen Wutanfall. Dann wird man dich in die dunkelste Zelle des Irrenhauses von Bedlam einschließen, noch ehe der Tag vorüber ist .
Verzweifelt kämpfte Julianna bei diesem Gedanken um ihre Selbstbeherrschung. Sie presste die Lippen aufeinander, um ihren wütenden Protest zu unterdrücken, und ihre Miene glich den erstarrten Zügen auf den marmornen Gesichtern der Grabdenkmäler an den Wänden. Diesen Gefallen werde ich dir nicht tun, Jerome, dachte sie verächtlich, während sie dem fragenden Blick des Geistlichen auswich.
Der klein gewachsene Kurat räusperte sich und erhob die viel zu hohe Stimme. „Willst du, Julianna Ramsay, diesen Mann zu deinem rechtmäßig angetrauten Gatten nehmen …“
Zögernd richtete Julianna nun den Blick auf ihren Bräutigam, Sir Edmund Fitzhugh. Er konnte Crispin Bayard, dem Mann, den sie zu ehelichen gehofft hatte, wohl kaum unähnlicher sein. Wenn sie an ihren schönen jungen Liebsten dachte, krampfte sich ihr das Herz zusammen. Die Worte, die sie nun vor dem Altar Gottes aussprechen musste, würden ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft mit Crispin für immer zunichtemachen.
Oh, mein Geliebter, schrie ihre Seele über Tausende von Meilen hinweg, die sie trennten, warum hast du mich so im Stich gelassen? Doch sogleich erhob sich in ihrem Innern eine protestierende Stimme. Wie hätte Crispin, als er sich auf den Weg in die Südsee machte, ahnen können, dass ihr Vater in der Zwischenzeit nach dem Bankrott seines Geschäfts sterben und Julianna damit auf Gedeih und Verderb in die Hände ihres verachteten und zugleich gefürchteten Stiefbruders geben würde?
Die erwartungsvolle Stille, die sich plötzlich über die wenigen Gäste und Zuschauer legte, und der neuerliche Druck von Jeromes derber Hand holten Juliannas Gedanken in die Gegenwart zurück.
„Ja.“ Das Wort klang wie ein Aufschrei.
Der Geistliche lächelte nachsichtig. Zweifellos missdeutete er die Heftigkeit ihrer Antwort als den dringenden Wunsch, einen Mann von Reichtum und Ansehen zum Gatten zu nehmen.
„Und willst du, Edmund Fitzhugh, diese Frau zu deiner rechtmäßig angetrauten Gemahlin nehmen, um mit ihr fortan in Gottes heiligem Sakrament zu leben …“
Wieder wanderten Juliannas Blicke zu ihrem künftigen Gemahl, während dieser seine Aufmerksamkeit auf die Worte des Kuraten lenkte. Sie hätte ihn auch ohne Jeromes entsprechenden Bericht für einen ehemaligen Seefahrer und Schiffskapitän gehalten. Die herausfordernde Haltung von Sir Edmunds breiten Schultern, die einen geradezu wagemutigen Eindruck vermittelte, und seine breitbeinige Stellung verrieten die Zahl der Jahre, die er auf einem schwankenden Schiffsdeck verbracht hatte. Seinen großen, kräftigen Händen konnte man ansehen, dass sie mühelos in der Lage waren, ein Segel zu reffen oder in wilder See das Steuer festzuhalten. Das feste Kinn mit der kleinen Kerbe und die harten Linien seines Mundeskennzeichneten ein entschlossenes, ausdauerndes Naturell, und in seinen tief liegenden Augen, die so kalt und grau waren wie der Atlantik, lag immer ein merkwürdig angestrengter Ausdruck, so als suche er einen weit entfernten Horizont ab.
Alles in allem war
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