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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verharrte er – obwohl er ja den gewaltigsten aller Kriege mitgemacht hatte – in der Vorstellung, dieser sei nur ein wüster Traum gewesen, und alle Veränderungen, die ihm gefolgt waren, seien noch wüstere Träume. Zwar sah er, jede Woche fast, daß seine Fürsprache bei Ämtern und Gerichten für seine Schutzbefohlenen nichts mehr nutzte, ja, daß sich neue Beamte über ihn lustig machten. Er war eher entsetzt als beleidigt. Schon war es allgemein bekannt in dem nächsten Städtchen wie in der Umgebung und auf den Gütern der Nachbarn, daß der »alte Morstin halb verrückt« sei. Man erzählte sich, daß er zu Hause die alte Uniform eines Rittmeisters der Dragoner trage, mit allen alten Orden und Auszeichnungen. Eines Tages fragte ihn ein Gutsbesitzer der Umgebung – ein gewisser Graf Walewski – geradeheraus, ob es wahr sei.
    »Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Morstin, »aber Sie bringen mich auf eine gute Idee. Ich werde meine Uniform anziehn– und zwar nicht zu Hause. Ich werde sie auch draußen tragen.«
    Und also geschah es auch.
    Von nun an sah man den Grafen Morstin in der Uniform eines österreichischen Rittmeisters der Dragoner – und die Einwohner verwunderten sich durchaus nicht darüber. Trat der Rittmeister aus dem Hause, so salutierte er vor seinem Allerhöchsten Kriegsherrn, vor der Büste des toten Kaisers Franz Joseph. Dann ging er den gewohnten Weg zwischen den zwei Tannenwäldchen, die sandige Straße entlang, die zum nächsten Städtchen führte. Die Bauern, die ihm begegneten, zogen die Hüte und sagten: »Gelobt sei Jesus Christus«, und sie fügten noch die Anrede »Herr Graf« dazu – als glaubten sie, der Herr Graf sei eine Art näherer Verwandter des Erlösers und zwei Titel wären besser. Ach! – seit langem nicht mehr konnte er ihnen helfen, wie er ihnen früher geholfen hatte! Zwar waren die kleinen Bauern immer noch ohnmächtig. Er aber, der Herr Graf, war kein Mächtiger mehr! – Und wie alle, die einst mächtig gewesen waren, galt er nunmehr noch weniger als die Ohnmächtigen: Fast gehörte er schon zu der Kaste der Lächerlichen in den Augen der Beamten. Aber das Volk von Lopatyny und Umgebung glaubte an ihn, immer noch, wie es an den Kaiser Franz Joseph glaubte, dessen Büste es zu grüßen pflegte. Den Bauern und den Juden von Lopatyny und Umgebung erschien der Graf Morstin keineswegs lächerlich, sondern ehrfurchtsvoll. Man verehrte seine hagere, dürre Gestalt, sein graues Haar, sein aschfarbenes, verfallenes Gesicht, seine Augen, die in eine Weite ohne Grenze zu blicken schienen; kein Wunder: Sie blickten nämlich in die verlorene Vergangenheit.
    Da ereignete es sich eines Tages, daß der Woiwode von Lwow, das früher Lemberg hieß, eine Inspektionsreise unternahm und sich aus irgendeinem Grunde in Lopatyny aufhaltenmußte. Man bezeichnete ihm das Haus des Grafen Morstin, zu dem er sich auch sofort aufmachte. Zu seinem Erstaunen erblickte er vor dem Hause des Grafen, mitten in einem Boskett, die Büste des Kaisers Franz Joseph. Er betrachtete sie lange, beschloß endlich, das Haus zu betreten und den Grafen selbst nach dem Sinn dieses Denkmals zu fragen. Aber er erstaunte noch mehr – ja, er erschrak beim Anblick des Grafen Morstin, der dem Woiwoden in der Uniform eines österreichischen Rittmeisters der Dragoner entgegenkam. Der Woiwode war selbst ein »Kleinpole«, daß heißt: Er stammte aus dem früheren Galizien. Er selbst hatte in der österreichischen Armee gedient. Der Graf Morstin erschien ihm wie ein Gespenst aus einem für ihn, den Woiwoden, längst abgelaufenen Kapitel der Geschichte.
    Er bezwang sich und fragte vorerst gar nicht. Dann aber, als sie bei Tisch saßen, begann er, sich vorsichtig nach dem Denkmal des Kaisers zu erkundigen. – »Ja«, sagte der Graf, als ob es gar keine neue Welt gäbe, »Seine hochselige Majestät war acht Tage hier. Ein sehr begabter Bauernjunge hat die Büste gemacht. Sie hat immer hier gestanden. Solange ich lebe, wird sie hier stehen.«
    Der Woiwode verschwieg den Entschluß, den er eben gefaßt hatte, und sagte lächelnd und wie nebenbei: »Sie tragen immer noch die alte Uniform?«
    »Ja«, erwiderte Morstin, »ich bin zu alt, um eine neue anzulegen. Im Zivil, wissen Sie, fühle ich mich seit dieser Veränderung der Verhältnisse nicht ganz wohl. Ich fürchte, man könnte mich dann mit manchen anderen verwechseln. – Auf Ihr Wohl«, fuhr der Graf fort – hob das Glas und trank seinem Gast zu.
    Der Woiwode saß

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